Analyse
: Lang erwartete Reise

■ Algerien läßt erstmals eine hochkarätige UN-Delegation ins Land

Damit hat niemand mehr gerechnet. Die algerische Regierung empfängt eine UN-Delegation. Das gab gestern ein Sprecher der Vereinten Nationen in New York bekannt. Seit den großen Massakern vom letzten Spätsommer in Benthala und Rais, bei denen über 400 Menschen ihr Leben verloren, hatten sowohl in- als auch auländische Menschenrechtsorganisationen eine solche Reise gefordert. Die algerische Regierung lehnte sie selbst dann noch als „ungerechtfertigte Einmischung“ ab, als während des Fastenmonats Ramadan Anfang des Jahres, rund um das westalgerische Relizane erneut 1.000 wehrlose Menschen massakriert wurden. Jetzt sollen die UN-Gesandten „ungehinderten Zugang zu allen Informationsquellen erhalten, die sie benötigen, um sich ein Bild der Lage in Algerien zu machen“.

Auf die Delegation warten viele ungeklärte Fragen: Warum griffen weder in Benthala noch in Rais die nur wenige hundert Meter entfernt stationierten Soldaten ein? Warum waren in Rais und in den Dörfern von Relizane die Militärposten in den fraglichen Nächten unterbesetzt? Warum waren die Opfer Menschen, die bei den Wahlen 1991 die Islamische Heilsfront (FIS) gewählt hatten? Was ist mit den 2.000 Verschwundenen passiert?

Ob die Delegation Licht in dieses Dunkel bringen kann, ist mehr als fraglich. Die Teilnehmerliste wurde von Kofi Annan persönlich zusammengestellt. Dabei hat sich der UN- Generalsekretär weniger von deren Effektivität als vom Unbehagen der Algerier gegenüber einer solchen Mission leiten lassen. Den Vorsitz hat der Ex-Präsident Portugals, Mario Soares, inne. Sein Land baut die wirtschaftlichen Beziehungen zu Algerien aus. Wie die USA, die ihren ehemalige Vertreter bei der UNO, Donald McHenry, schickt. Ob der indische Ex-Premier M.I.K. Gujral und Frankreichs Staatsministerin a.D., Simone Veil, neutral an ihre Arbeit herangehen, darf angesichts der diplomatischen Beziehungen der jeweiligen Länder mit Algerien – sei es bei den Blockfreien oder als ehemalige Kolonialmacht – bezweifelt werden. Für eine minutiöse Bestandsaufnahme wären die UN-Spezialisten für Folter, standrechtliche Erschießungen und Verschwundene nötig. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, und Organisationen wie amnesty international haben deren Besuch vor Ort oft gefordert. Sie müssen auch jetzt zu Hause bleiben. Eine rein politische UN-Delegation läuft einmal mehr Gefahr, dazu zu dienen, offene Fragen unter den Teppich zu kehren. Mit erneuten allgemeinen Erklärungen gegen Terrorismus ist niemandem gedient. Und wenn die UN-Delegation wieder weg ist, wird Algier noch weniger Interesse haben, berufsmäßige Aufspürer von Menschenrechtsverletzung ins Land zu lassen. Reiner Wandler