Sie sind jederzeit auf Angriffe vorbereitet

■ Empirische Studien belegen eine weite Verbreitung rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Einstellungen sowie eine latente Gewaltbereitschaft bei ostdeutschen Jugendlichen

Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt herrschte Entsetzen über den großen Erfolg der DVU. Doch der Sieg kam nicht über Nacht, Sozialforscher wie der Magdeburger Thomas Claus hatten frühzeitig und zumeist ungehört darauf hingewiesen. Sie hatten rechte Einstellungen ebenso wie die Gewaltbereitschaft der Ost-Jugendlichen empirisch belegt.

Die Studie von Thomas Claus und Detlev Herter aus dem Jahre 1994 kann für sich reklamieren, das Gewaltpotential unter 1.000 Magdeburger Jugendlichen thematisiert zu haben. Freilich kamen die beiden Forscher kaum über folgenden Befund hinaus: Viele der Jugendlichen wiesen eine „große Toleranz gegenüber Gewaltanwendung als Mittel der Konfliktlösung“ auf. Das ist interessant, sagt aber noch wenig über die Ursachen, über die Festigkeit dieser Haltung aus. Man versteht gar nicht recht, warum die Auftraggeberin, die Stadt Magdeburg, damals die Studie zunächst unter Verschluß hielt.

Max Horkheimer sagte einmal, wenn man wissen wolle, was die Menschen dächten, solle man sie nicht danach fragen. Recht hatte er, denkt sich der Leser. Die quantitativ arbeitende Sozialforschung entgeht dem Diktum Horkheimers, indem sie analysiert, wie die Aussagen Befragter zu bestimmten Merkmalen (wie Rechtsextremismus) mit anderen (wie Selbstvertrauen) korrespondieren. Das Brandenburger Institut für Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK) hat das in dem gerade erschienenen Sammelband „Jugend und Gewalt“ in Ostdeutschland versucht.

Die Ergebnisse des An-Institutes der Universität Potsdam sind erschreckend. Die 1995/1996 vorgenommenen Befragungen unter 2.683 Schülern und Auszubildenden ließen sich in puncto Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit „zu drei gut zu interpretierbaren Gruppen“ zusammenfassen: „Eine Gruppe, die sich durch sehr starke rechtsextreme und ausländerfeindliche Einstellungen auszeichnet (21 Prozent der Repräsentativstichprobe), eine mittlere Gruppe mit etwas moderateren Einstellungen (36 Prozent) und eine dritte Gruppe (41 Prozent)“ mit ausgesprochen niedrigen Werten. 21 Prozent bekennender Rechtsextremer – da kann der Autoren Fazit über die politischen Einstellungen Jugendlicher kaum beruhigen: Gegenüber früheren Befragungen des gleichen Instituts 1991 und 1993 habe nämliche die Politikverdrossenheit eher abgenommen.

Das in Vehlefanz ansässige IFK hat die genannten Gruppen einer Feinanalyse unterzogen. Sie kann kaum überraschen: Die ermittelten rechtsextremen und ausländerfeindlichen Jugendlichen haben bereits zu beinahe 50 Prozent Gewalt gegen Sachen und/oder Menschen angewandt. Sie rechnen – wie die Magdeburger Studie belegt – ständig mit der Möglichkeit, daß es zu Gewalttätigkeiten kommen könnte. Von daher sind sie jederzeit „auf Angriffe vorbereitet“. Ein Ergebnis, das beleuchtet, in welch konfrontativem Klima ostdeutsche Jugendliche bisweilen leben: Carl Schmitts fundamentale Definition von Politik als Unterscheidung von Freund und Feind gehört für sie zum täglich Brot.

War dieser Befund durchaus zu erwarten, zeigen zwei andere Ergebnisse, daß rechtsextremistische Einstellungen eine Klientel ergreifen, die dafür anderswo nicht anfällig schien: Rechtsextreme rekrutieren sich keinesfalls aus Losern, sondern zeichnen sich im Gegenteil durch Selbstvertrauen aus. Politische Sachkenntnis und Selbstwertgefühl, das ist das Niederschmetternde an diesem Ergebnis, vermögen sich bei vielen Jugendlichen mangels anderer Möglichkeiten nicht anders auszudrücken als durch die Zugehörigkeit zu und den Aktionismus mit rechtsextremen Cliquen. Das ist noch nicht das „Psychogramm der Rechtsradikalen“, das der Leiter des IFK, Dietmar Sturzbecher, zeichnen will. Aber es wirft die bange Frage auf, die sich auch die Streetworker in Magdeburg stellen: Wird daraus eine gefestigte politische Einstellung?

Platz für solch eine verstehende Interpretation läßt eine Teilstudie, die gleichfalls am IFK angefertigt wurde. Der Psychologe Ronald Freytag hat im Rahmen einer Studie über das „Amerikabild“ Brandenburger Jugendlicher deren antisemitische Einstellungen analysiert. Im innerdeutschen Ost- West-Vergleich politischer Haltungen von Jugendlichen hat er dabei unter anderem herausgefunden: In Nordrhein-Westfalen sind Jugendliche zu drei Prozent antisemitisch, und zwar in Übereinstimmung mit ihren Eltern. In Brandenburg sind sie es zu neun Prozent – und ausgeprägt gegen ihre Eltern.

Bestimmt dieser Protest gegen die Eltern die politischen Haltungen der Ost-Jugendlichen, dann ist ein anderer Umgang mit den neuen Bundesländern vonnöten: ein differenzierterer. Und es wird deutlich, daß es neben den Schreckensbefunden über Jugend und Gewalt auch differenziertere Analysen der Entstehung politischer Motivationslagen junger Leute braucht. Christian Füller

Thomas Claus, Detlev Herter: „Jugend und Gewalt“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 38/1994, S. 10–20

Ronald Freytag, Dietmar Sturzbecher: „Die zweite Entdeckung Amerikas“. Verlag für Berlin- Brandenburg: Potsdam, Mai 1998

Dietmar Sturzbecher (Hg.): „Jugend und Gewalt in Ostdeutschland“. Verlag für angewandte Psychologie, Göttingen, 39,90 DM