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: „Totenkult statt Revolution“: Manfred Hettling liest und diskutiert

„Auf, auf zum Kampf, zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren, auf, auf zum Kampf, zum Kampf sind wir bereit, dem Karl Liebknecht haben wir's geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand.“ Unbeeindruckt von der Wende, vielleicht sogar als Reaktion auf das nicht erfüllte Versprechen von 1989, erschallt dies Lied in jedem Januar aus Tausenden von Kehlen, ehe die Rosa-und-Karl- Demo auf den Sozialistenfriedhof in Friedrichshain einschwenkt. Das Lied eines unbekannten Verfassers versammelt zwei Momente des kommunistischen Totenkults: den Schwur an die Märtyrer und das Versprechen des Kampfs. Die Erinnerung an Rosa und Karl vertreibt die Angst „vor dem Donner der Kanonen“. Der Revolutionär, „er steht wie eine Eiche“. Spätestens bei diesem Gleichnis wird die Erinnerung an 1848 wach. Denn auch Robert Blum, der Freiheitsheld, stand wie eine Eiche vor dem kaiserlichen Exekutionskommando in Wien.

Manfred Hettling hat seinem Werk über 1848 und dessen Opfer den provozierenden Titel „Totenkult statt Revolution“ gegeben. In minuziösen, materialreichen Untersuchungen beschreibt er Elemente des Totenkults von 1848 – den Begräbniszug für die Berliner Märzgefallenen, die Totenfeiern für Robert Blum. Andererseits die Kriegerdenkmäler, die die siegreiche Konterrevolution nach 1849 errichtete. Hettling führt uns vor Augen, wie das Gedenken der gefallenen Revolutionäre die revolutionäre Tat verdrängte, zur Ersatzhandlung wurde. Und er schildert eindringlich den Prozeß, in dessen Verlauf der nationale an die Stelle des revolutionären Totenkults trat. Seine Apotheose erreichte diese Feier des nationalen Opfers unterm Faschismus – in den Inszenierungen kultischer Selbstauslöschung auf den Reichsparteitagen und vor der Feldherrnhalle in München. Manfred Hettlings Darstellung bewegt sich sicher zwischen Geschichtserzählung, literarischer und kunsthistorischer Interpretation. Er macht neugierig auf die Frage, wieweit ein demokratisches Gemeinwesen auf große Emotionen und deren „Einfassung“ angewiesen bleibt, wie ein demokratischer Totenkult denkbar wäre. Christian Semler

Heute, 20 Uhr, Buchhandlung Kiepert, Georgenstraße 2