■ Nachschlag
: Wer war die Sultanin der Laute? Reinette l'Oranaise im HdKdW

Wann ist Gesang tatsächlich Gesang? Neben den um die Sängerin Reinette l'Oranaise gesponnenen Vorstellungen von nationaler, kultureller und religiöser Identität konfrontierte ihr Konzert im Haus der Kulturen der Welt auch mit subtilen Voreingenommenheiten bezüglich einer alten singenden Frau. Laut Le Monde ist die sephardische Jüdin, die in Algerien geboren wurde und nach dem Algerienkrieg nach Frankreich ging, vermutlich zwischen achtzig und neunzig Jahren alt. Genauer weiß man es nicht. Wird sie, die zudem noch blind ist, einen schweren nach vorne gebeugten Gang hat, mit ihrer Geschichte von Emigration, Krieg, Eigenwilligkeit nicht einfach aufgrund all dieser Lebensfacetten vermarktbar? Wer war sie, diese „Sultanin der Laute“, und was ist sie heute?

Nachdem sie auf die Bühne geführt wurde und ihre Handtasche abgestellt hat, wird ihr das Instrument in die Hand gegeben. Gestützt von drei brillanten Musikern an Piano, Geige und Trommel, die jede ihrer stimmlichen Abweichungen gekonnt parieren, rezitiert sie ihre alten Lieder: Liebeslieder, Hymnen zwischen Alltag und Gott, Oden an „die Gefühle, die es nicht mehr gibt“, wie sie sagt. Wenn sie zu singen beginnt, wird ihr vom Leben abgeschliffener Körper für Sekunden jung. Mit dem herben „Ach“ ihrer Stimme kommentiert sie, was sie nicht gesehen und trotzdem erlebt hat: Liebe und Leidenschaft, Gewalt und Verrat. Klar und gleichzeitig gebrochen singt sie, stark und gleichzeitig schwach, das Vibrato des arabisch-judäischen Gesangs mit seinen andalusischen Klängen geglättet, fast französischer Sprechgesang und eine Bereitschaft, sich herzugeben – dies alles verleiht ihr Autorität. Wenngleich es die Autorität der Erinnerung bleibt, denn sie hält die Kraft nicht immer durch. Es reicht jedoch, um das Wesentliche zu sagen: Ich bin.

Reinette l'Oranaise hat während des Algerienkrieges ihre Lieder auf französisch mit algerischem Akzent und auf algerisch mit französischem Akzent gesungen – wie einfach, den nationalen Wahn in Frage zu stellen. Das ganze Konzert, ein einziges Antiklischee. Es demonstriert, worauf es ankommt: auf authentischen Ausdruck. Waltraud Schwab