Trolle im Heim der Riesen

Eine Skiwanderung in Norwegen führt nicht nur in die Einsamkeit des Nationalparks Jotunheimen, sondern auch zum Rendezvous mit schaurigen Fabelwesen  ■ Von Imke Rafael

Verlockend funkelt der Schnee im Schein des Vollmonds, der sternenklare Himmel über Norwegens unberührter Natur lädt zum Nachtspaziergang ein. Doch dazu hat in unserer Skigruppe niemand Lust. Dort draußen, in den norwegischen Bergen, hocken nämlich Erdgeister. Und die lauern nur darauf, unschuldige Menschen in ihr gruseliges Reich zu zerren.

Trolle sind, entgegen landläufiger Meinung, böse Geister. Sie lassen sich allerhand Schabernack einfallen; dabei tun sich besonders die Frauen hervor, die alle sehr schön und sehr böse sind: Am liebsten verführen sie einen Menschenmann, schleppen ihn vor den Traualtar – und schon ist es um ihn geschehen: Entseelt wird er in ihr finsteres Reich verbracht, zu bacchantischen Tänzen und Gelagen.

Das zumindest ist die feste Überzeugung von Andre, unserem einheimischen Führer. Seine Großmutter hat es ihm so erzählt. Und die muß es wissen: Sie ist hier, im Tal der Sjoa, geboren, und hier hat sie ihr ganzes Leben verbracht. Für einen reichen Bauern butterte sie und stellte Käse her. Die Sjoa, der „glitzernde Fluß“, war für sie der Mittelpunkt ihrer Welt. Bis ins 100 Kilometer entfernte Lillehammer ist sie vielleicht nie gekommen.

Für uns dagegen ist die gefrorene Sjoa Leitfaden für eine Skiwanderung unter der kundigen Führung von Enkel Andre. Sommers verdient er als Bergführer und im Winter als Skiführer seine Kronen. Er scheucht uns über die vereiste „Glitzernde“, in deren Eisdecke ab und an drohend-schwarze Löcher gähnen.

Die Sjoa schlängelt sich durch den Nationalpark von Jotunheimen, dem „Heim der Riesen“. Hier liegen die höchsten Berge Norwegens, mit über 2.000 Metern. Das bekommen wir bald zu spüren: Wir ächzen die Steilhänge hinauf, die Ski über Kreuz. Aber auch diese Mühsal hat noch einen Sinn – behauptet Andre: Gekreuzte Ski schrecken Trolle ab, genauso wie gekreuzte Arme die Vampire. Wer's glaubt, wird selig, und uns kommen allmählich Zweifel: Glaubt Andre vielleicht nur berufsbedingt an den Troll? Das wäre eine herbe Enttäuschung, denn inzwischen haben wir uns an die unterirdischen Plagegeister gewöhnt, die uns angeblich auf Schritt und Tritt begleiten.

Wir entfernen uns vom Fluß; jetzt geht es über windumtoste Ebenen, und Andre, im Herzen ein echter Wikinger, kennt kein Erbarmen: Zehn Kilometer sind es noch bis zur nächsten Hütte. Schon tanzt er auf seinen Skiern wieder talwärts und verschwindet mit einem dieser eleganten Telemarkschwünge, um den wir ihn alle glühend beneiden, hinter einer Birkengruppe. Im unfreiwilligen Schuß jagen wir hinterher durch den dichten Wald. Jeder Baum sieht hier aus wie ein Troll.

Endlich Pause. Andre zeigt uns die Leckereien der norwegischen Tannenwälder: Harz, das wie Kaugummi schmeckt. Nerze kommen herangehoppelt, richten sich neugierig vor uns auf. Angst kennen sie nicht, sie sind wohl noch nie einem menschlichen Wesen begegnet. Die Luftverschmutzung dagegen ist schon bis hierher vorgedrungen: Schwarze Luftpartikel wehen, bei ungünstigen Winden, aus Liverpool und Manchester herüber und legen sich auf den weißen Schnee.

Wieder einmal müssen wir die Sjoa queren – an einer besonders verzwickten Stelle. Auf dünnen Stegen gleitet Andre als erster über den Fluß und prüft die Haltbarkeit des Eises, während links und rechts die eisigen Wasser glucksen. Vom anderen Ufer winkt er uns zu, und wir rutschen ebenfalls hinüber . Der eine oder andere landet dabei auf dem Allerwertesten, niemand aber in der Sjoa.

So erreichen wir, abwechselnd fluchend und juchzend, die Hütte. Wir fühlen uns wie die Bezwinger sämtlicher Gipfel des Jotunheimen. Doch welche Enttäuschung: Nur 14 Kilometer haben wir heute zurückgelegt. Zeit zum Frusten bleibt jedoch nicht, denn schon warten Besen und Schippe auf uns: Schneeverwehungen liegen in Stube und Schlafräumen, und Holz muß aus dem Schuppen geholt werden, um den Ofen anzuschmeißen. Am nächsten Morgen entschädigt der Blick aus dem Fenster für die Plackerei vom Vorabend; flammend-orange kriecht die Sonne hinter der eisigen Bergkette hervor, über die einst Peer Gynt ritt wie der Teufel.

Wir hoffen auf einen beschaulichen Tag. Doch auf Andres Programm steht heute Eisklettern. Er führt uns zu einem sogenannten Anfänger-Wasserfall – und wir blicken schaudernd an kaltem, glattem Eis hinab in die Tiefe; ganz, ganz weit unten plätschert leise die Sjoa. Wenn sich in Werbespots kühne Helden mit freiem Oberkörper gefrorene Wasserfälle hinabstürzen, ist das mittlerweile ja normal – soviel Action hautnah gibt jedoch zu denken. Andre, Pionier wie gehabt, klettert als erster – der Troddel an seiner lila Zipfelmütze schwingt lustig hin und her, als er die gletscherblaue Wand hinuntergleitet.

Unsere Abenteuerlust schwindet mit jedem Meter, den Andre abrutscht. Dann sind wir dran: Die Steigeisen in die Eiswand gekrallt, seilen wir uns tapfer ab, gehalten von zwei starken Norwegertannen, deren Wipfel bedenklich schwanken. Zur Belohnung dürfen wir, etwa auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde, hinter den Wasserfall klettern: Überall sprießen hier wundersam geformte Eiszapfen.

Ab und zu geht es auch gemütlicher zu. Dann klauben wir Holz für das Feuer zusammen, Andre kocht starken Kaffee und verteilt Blechtassen im John-Wayne-Stil. Als routinierter Wanderführer spürt er immer genau, wann wir nach einer Pause hecheln. Und er hat einen ausgeprägten Geschäftssinn: Für seine Skibaukurse will er uns werben. Die finden alljährlich in einer Gamme statt, einer traditionellen Rundbehausung. In der Mitte prasselt ein Lagerfeuer, drum herum wißbegierige Wohlstandsbürger, bewaffnet mit Axt und Hobel, die auch gern so kernig wären wie der Durchschnittsnorweger.

Der Ski wurde 1867 in Norwegen erfunden. Das Rezept klingt einfach: Man nimmt einen Holzscheit und biegt ihn sich zurecht; die Bindungen werden aus Rentierhaut gefertigt. Wir bleiben skeptisch, aber schließlich brauchen wir nicht den Beweis anzutreten: Die Scheite – das heißt Ski nämlich übersetzt aus dem Norwegischen – werden uns bequemerweise direkt vor die Füße gelegt. Doch der Telemarkschwung mit elegant eingeknicktem Knie will nicht recht gelingen. Fast glauben wir das höhnische Gelächter von Peer Gynt und seinen Genossen zu hören.

Früher sind die Norweger selbstverständlich nur mit einem Stock gefahren – in der anderen Hand mußten sie die Flinte halten. Im Gegensatz zu uns Freizeitsüchtigen wäre es ihnen wohl nicht im Traum eingefallen, zum Vergnügen auf Skiern herumzurutschen. Sie waren entweder auf der Jagd, um Eßbares für die Familie zu erlegen, oder aber auf dem Weg ins nächste Dorf, weil eine Frau in den Wehen lag oder der Nachbar im Sterben und es im eigenen Weiler keinen Doktor gab.

Am letzten Hüttenabend, die wurmstichige Tür hat sich gerade knarzend geöffnet, zaubert Andre zwei gute Flaschen Weißwein aus seinem Rucksack. Zum Dinner gibt es als Horsd'÷uvre Rentierzunge und Rentierherz, dann Lachsforelle und schließlich Waldbeerjoghurt zum Dessert. Unsere Gourmet-Herzen jubeln. Später erzählt der nimmermüde Andre, wie die Trolle entstanden sind: Nachdem Gott Adam und Eva erschaffen hatte, war er neugierig, was aus den beiden wohl geworden war. Also kündigte er Eva einen Besuch an, um sich die Kinder anzuschauen. Doch Eva war faul und fing erst kurz vorher an, ihre Kinder proper herzurichten. So schaffte sie nur eine Hälfte. Die schmutzigen Kinder versteckte sie kurzerhand unter der Erde. Diese wurden dann zu den Erdgeistern, die sich vorzugsweise in Norwegen tummeln.

Jetzt wissen wir auch endlich, warum Trolle zwangsläufig böse sein müssen, schließlich leben sie gezwungenermaßen unterhalb der Erdkrume. Gern zerren sie auch unschuldige Kinder mit hinab. Andre, mit der dunklen Seite Norwegens bestens vertraut, kennt all die Berge, die benannt sind nach verschwundenen Mädchen und Jungen. Uns schaudert.

Nachts trauen wir uns kaum vor die Tür – andererseits brauchen wir Wasser zum Zähneputzen. Also doch hinaus zum Schneeholen. Die Silhouette eines verlassenen Kuhstalls zeichnet sich ab vor den schneebedeckten Bergen. Wir wissen: Auch in diesem Stall ist eine Box für Trolle freigehalten, um sie zu besänftigen und damit sie nicht ins Haus kommen. Und Trolle soll man nicht reizen, also machen wir einen großen Bogen.

Die gelbe Scheibe des Mondes hängt dekorativ über dem Berggipfel der „Verschwundenen Anna“. Davor würde sich jetzt zwar gut eine Herde Rentiere machen, doch die kommt nicht heute nacht. Statt dessen gibt es Nordlichter satt: Grün, rosa und blaßblau huschen sie über den sternenklaren Himmel.

Veranstalter: Club Aktiv, Postfach 2049, 26010 Oldenburg, 0441/9849812,

E-Mail: club.aktiv6t-online.de

Beste Reisezeit: Ende Februar (dann sind die Tage schon länger) bis Ende April.

Informationen: Norwegisches Fremdenverkehrsamt, Mundsburger Damm 45, 22087 Hamburg, 040/22710810, Fax 040/22710815