Zeugnisse des Grauens aus Algerien

Human Rights Watch zieht eine vernichtende Bilanz. In dem nordafrikanischen Land greifen Staatsführung und militante Islamisten mittlerweile zu den gleichen Methoden: Folter, Mord und Verschwindenlassen  ■ Aus Algier Reiner Wandler

„Das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen nimmt weiterhin ständig zu. Die algerischen Autoritäten unternehmen nichts, um die Verantwortlichen zu bestrafen.“ Mit diesen Worten faßt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) die Lage in Algerien zusammen. Unter dem Titel „Weder unter den Lebenden noch unter den Toten“, legt die US-amerikanischen Organisation heute das Ergebnis einer 14tägigen Untersuchungsreise zweier ihrer Mitarbeiter in dem nordafrikanische Land vor.

Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung greifen die Sicherheitskräfte systematisch zur Folter, Massenerschießungen und illegalen Verhaftungen, ohne daß jemand sie dafür belangt“, heißt es in dem Bericht. HRW schätzt die Zahl der Menschen, die seit der Machtübernahme der Militärs 1992 spurlos verschwunden sind auf über 1.000.

Wie bei den meisten Gewalttaten in Algerien, sei auch bei den Verschwundenen oft unklar, wer dafür im konkreten Fall verantwortlich ist. Die Betroffenen würden meist „von Männern in Zivilkleidung gefangengenommen, die sich strikt weigern, sich auszuweisen“. Oft stelle sich später heraus, „daß sie den Sicherheitskräften angehören“. Den Berichterstattern sei aber auch von Entführungen durch „uniformierte Männer“ berichtet worden, „bei denen Augenzeugen den Verdacht hegen, daß es sich um verkleidete Mitglieder bewaffneter Gruppen handelte“.

Wer von Armee oder Polizei entführt wird, den erwarten meist Folterungen in geheimen Haftzentren. Dabei werden die Opfer mit langen Stöcken geschlagen, mit in Putzwasser und Chemikalien getränkten Lumpen geknebelt und stundenlang an den Armen aufgehängt. Nicht besser ergeht es jenen, die in die Hände der bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) fallen. Von Entführungen durch radikale Islamisten sind vor allem junge Frauen bedroht. Sie werden nach Massakern verschleppt, um nach sogenannten Schnellhochzeiten den Mitgliedern der Kommandos als „Ehefrauen“ zu dienen.

HRW gibt die Zahl der offiziellen Häftlinge in Algeriens Gefängnissen mit 38.000 an. Davon sitzen 10.000 bis 12.000 wegen angeblicher Kontakte zu bewaffneten Gruppen und wegen „Subversion“ ein. Jedem fünften wird eine direkte Beteiligung an terroristischen Gewalttaten vorgeworfen. Um mehr Licht ins Dunkel der Haftbedingungen, Folter und den Verbleib der Verschwundenen zu bringen, fordert HRW von der Europäischen Union und der US-Regierung, daß „die Botschaften vor Ort Untersuchungen über die Verschwundenen aufnehmen, und den Kontakt zu den Gefangenen suchen, deren Namen bekannt sind“.