Kleiner Trost am Grab der großen Toten

Wie jedes Jahr im Januar pilgerten auch gestern Zehntausende zur Gedenkstätte für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Trotz einiger Zusammenstöße mit der Polizei überwog das stille Gedenken der alten Genossen  ■ Aus Berlin Jens Rübsam

Für PDSlerin Christa Hoffmann (68) ist es ein Tag, über ihr Leben nachzudenken. Über „Fehler“ und über das, „was gut war in der DDR“. Für Kai Nimiczeck (18), Mitglied der Falken, ein Tag, um „gegen die Regierung zu sein“. Gegen die „ganze Scheiße, die gegenwärtig in Deutschland läuft: Bildungsabbau und Kürzungen im Sozialbereich“. Für Bolle von der Roten-November-Jugend ein Tag, die „Revolution“ zu beschwören. Die Novemberrevolution von 1918. Denn: „Die Revolution ist die einzige Alternative, die uns bleibt.“

Über 40.000 Menschen gedachten gestern in Berlin der am 15. Januar 1919 ermorderten kommunistischen Arbeiterführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Still und individuell die älteren, laut und revolutionär die jungen. Kraß war der Unterschied zwischen der „leisen“ Würdigung, zu der die PDS aufgerufen hatte, und der Demonstration, zu der ein breites antifaschistisches Bündnis mobilisiert hatte. „Wir wollen diesen Tag nicht für alle möglichen politischen Zwecke mißbrauchen“, begründet der Bonner PDS-Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi die Entscheidung zur „stillen Ehrung“. Für Antifa-Gruppen aus ganz Deutschland, linke Gruppierungen wie DKP und Marxistisch- Leninistische Partei Deutschland, aber auch PDS-Mitglieder schien das nicht akzeptabel. Lautstark zogen sie vom Stadtteil Friedrichshain zur Gedenkstätte in Friedrichsfelde und verbanden das Gedenken mit aktuellen politischen Forderungen: gegen Lauschangriff, gegen die Politik der Inneren Sicherheit von Innenminister Kanther und Berlins Innensenator Schönbohm.

„Ich halte die Entscheidung der PDS zum stillen Gedenken für falsch“, sagte Erich Henke, Alt- PDSler, und verweist auf die Demonstranten um ihn herum. Vorwiegend junge Leute, „um die sich die PDS lieber mal hätte bemühen sollen“. Die Jungen hatten die Parole ausgegeben: „Nie wieder Deutschland“. Sie sangen: „Es lebe die Solidarität“. Und trugen rote Fahnen.

Bereits zu Beginn der Demonstration war es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen, weil „Symbole der verbotenen Kurdenpartei PKK“ gezeigt wurden, wie ein Polizeisprecher sagte. Brutal waren Demonstranten aus dem Zug herausgerissen wurden. Die Szene wiederholte sich, als der Zug am ehemaligen Stasi-Gebäude vorbeizog. Augenzeugen berichteten, die Polizisten hätten wahllos und ohne erkennbaren Grund auf Teilnehmer eingeschlagen. Auch vom Einsatz vermummter Zivilbeamten war die Rede. Das Resümee aus Polizeisicht: 15 Demonstranten wurden festgenommen.

Sich vereinnahmen lassen? Für irgendwas? Nein. Christa Hoffmann ist nicht zur Demonstration gegangen. Für sie ist das stille Gedenken die richtige Form der Würdigung. Sie hat rote Nelken auf die Gräber von Rosa und Karl gelegt. Einen Moment lang vor dem wuchtigen Gedenkstein „Die Toten mahnen uns“ verweilt. Und Tränen vergossen. „An diesem Tag muß ich immer wieder über mein Leben nachdenken.“

Wie sie 1953, nach dem Tode Stalins, geweint habe, sie wußte ja nicht um Stalins diktatorische Methoden. Sie habe sich damals nur die Frage gestellt: „Was wird aus der Welt?“ Sie sei eben eine „glühende Stalinistin“ gewesen, „aus heutiger Sicht sicher unverständlich“. Oder, und Christa Hoffmann will noch ein Beispiel nennen, „meine Haltung gegenüber Bahro“.

Bahro war ein Studienkollege von ihr, und sie war „gegen Bahro“. Sie, die Philosophie-Studentin an der Humboldt-Universität, hatte sich dem pauschalen Urteil der Uni-Leitung, die gegen Bahro war, angeschlossen, „obwohl ich überhaupt nicht seine Reden kannte“. Ja, sie habe sich vereinnahmen lassen. Sie sei „sehr wenig tolerant“ gewesen. Erst später, als sie Bahro persönlich kennengelernt und mehr von ihm gelesen hatte, habe sie Fehler eingesehen. „Jedes Jahr hierher zu Karl und Rosa zu kommen“, sagt Christa Hoffmann, „ist mein Teil der Wiedergutmachung“.

Kai Nimiczeck, der Falke, und Bolle, der Jung-Revolutionär, haben nichts gutzumachen. Sie sind jung. Und wollen, daß sich die Gesellschaft verändert. Dafür gehen sie auf die Straße. Stillstand, meinen beide, dürfe es nicht geben.