Rembrandt in Unterhosen

■ Selbstinszenierung als Programm: Das Pariser Musee D'Art Moderne zeigt eine Retrospektive des lebenden Gesamtkunstwerks Gilbert & George. Mal im Maßanzug, mal nackt, mal fäkalisch

Gilbert und George wollen nicht in einem Atemzug genannt werden mit Künstlerduos: sie sind ein Künstler. Das muß als Antwort auf die Frage nach ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit genügen. Zu ihrer Retrospektive im Pariser Musée D'art Moderne erinnert eine legendäre Filmaufnahme an die Anfänge in den späten 60er Jahren, für die sich das Paar mit Understatement als Super-Tramps präsentierte. Mit kaum bewegter Miene stand es auf einem Tisch und gab als singendes Kunstwerk bekannt: „Wir sehnen uns nicht nach dem Ritz, und auch das Carlton interessiert uns nicht. Für uns gibt es nur einen Ort, denn wir schlafen dort! Unter den Brückenbögen träumen wir unseren Traum...“ Der Erfolg des Liedchens „Underneath the Arches“ begründete im Kontext des sich rasant erweiternden Kunstbegriffs die dauerhafte Liaison von Gilbert und George.

Ihre Anzüge, damals Secondhand, heute schon lange maßgeschneidert, avancierten zum Markenzeichen. Für die Stilisierung zu einem Produkt, das keine Spaltung zwischen Kunst und Leben zuließ, bedurfte es zudem eines festen Regelwerkes. Das enthält neben „Zehn Geboten“ und dem Manifest „Art for All“ auch „Gesetze für den Bildhauer“. Außer einer tadellosen Erscheinung wird dort verlangt: Bringe die Welt dazu, an dich zu glauben und für dieses Privileg ordentlich zu bezahlen! Entsprechend plant das symbiotische Duo seine Ausstellungen mit der Professionalität von Vollblutmanagern. Ob Moskau, Peking oder Paris – an einem Miniaturmodell der Ausstellungsräume wird die Hängung austariert und vor Ort dann nur noch vollstreckt.

Die Selbstinszenierung als Programm gerät nie außer Kontrolle. Auch im Musée D'art Moderne besticht die Hängung der stets perfektionistisch ausgeführten Bildwerke durch einen Rhythmus aus Dichte und Sparsamkeit. Retrospektiv angelegt, beginnt die Schau mit reduzierten Schwarzweiß-Polyptychen. Einige davon wurden bald mit transparenter roter Farbe überzogen und bilden zusammen mit Schwarzweiß-Bildern dramatische Tableaus. Was auch immer zum Herzstück eines solchen Bildpuzzles erkoren wurde: Porträts von wirklichen Tramps, leere Räume oder blühende Bäume – stets finden wir Gilbert und ihm zur Seite George. Nur auf wenigen Werken, diese dann meist brachial piktogrammatisch, bleibt das Paar abwesend. Die eigene bildliche Dauerpräsenz erklären sie mit der notwendigen Anwesenheit des genialen Künstlers in seinem Werk und nennen, natürlich, Rembrandt und van Gogh. Ob ganz melancholisch in Hemd und Krawatte, ob staunend zu Füßen (?) eines Riesenpenis – das Werk spricht erst überzeugend durch G.&G., den Künstler.

Seit den 80er Jahren haben die Bilder einen überaus konkreten sexuellen Charakter angenommen. Auf psychedelischen Farbfeldern tummeln sich Obsessionen und Wunschbilder – letztere als Legionen wohlgestalter Jünglinge aller Hautfarben. Formal bieten die Arbeiten eine Synthese aus Kirchenfenstern und Werbeästhetik. Von ihrem konservativen Habitus abgesehen, gibt es kaum Anhaltspunkte für gesellschaftliches Engagement oder politische Präferenzen; schon gar nicht für Rechtslastigkeit, wie sie dem Paar in Großbritannien angedichtet wurde. Die Vorliebe für Schockeffekte, besonders körperbezogene, macht Gilbert & George eher zu ewigen Anarchisten.

Um der Abnutzung durch Wiederholung vorzubeugen, führen sie in Abständen Neuerungen ein. Am Stil und an der Technik der kolorierten Schwarzweiß-Vorlagen hat das Team allerdings nichts geändert, nur die Provokation ist stets größer geworden: Waren es um 1985 noch phallusförmige Arabesken oder fliegende Herrenunterkleider, die den Mikrokosmos ihrer Bilder belebten, so fielen 1994 auch die Maßanzüge und Unterhosen der ebenso respektablen wie mittlerweile angejahrten Protagonisten. Wenn sie heute wie Dante und Vergil durch die Höllen und Paradiese ihrer Phantasien wandeln, tun sie dies nackt. Damit nicht genug, wuchs auch das Interesse für die Wunder menschlicher Sekretion und Verdauung. In Paris wird der letzte Raum von den zerklüfteten Landschaften menschlicher Fäkalien dominiert.

Welcome to the Shit Pieces! Daß zwei der Abprodukte in gedrungener Säulenform einander kreuzen, führte zur denkwürdigen Arbeit „Shitty“ (1994), zu deutsch: einem Kreuz aus Scheiße. Wie Gilbert und George beabsichtigen, werden die Betrachter hier „erwischt, noch bevor sie Zeit zu denken haben“. Während ihr Werk den Anfeindungen religiöser Gruppen ausgesetzt ist, genießen die Partner auch außerhalb der Kunstwelt einigen Erfolg. Sie führen ihn auf die tiefen Emotionen zurück, die ihre Arbeiten auslösen, und auf das menschliche Maß, das Humanabsonderungen, sei es Speichel, Urin oder Kot, den riesigen, den fragmentarisierten Fotografien verleiht. Der persönliche Schneider von Gilbert und George war zumindest begeistert: „It is real! It's real shit!“

Das gilt auch für die neuesten mikroskopischen Abbilder, deren florale und distanzierte Ornamente einen völlig vergessen lassen, worum es sich wirklich handelt: Pisse, Sperma, Spucke, Blut. Susanne Altmann

Noch bis 4. Januar 1998