Schriftsteller schwärmten von der Schönheit Neapels, Touristen fürchten um das Handtäschchen. Nun hat der linke Bürgermeister der süditalienischen Stadt, Antonio Bassolino, die alte Schönheit neu aufpoliert: Modell einer Stadterneuerung  ■ Von Antje Bauer

Über Jahrhunderte hatten Sänger und Dichter von der Schönheit Neapels geschwärmt. Johann Wolfgang von Goethe, der 1787 die Stadt am Golf besuchte, schrieb in seiner „Italienischen Reise“: „Daß kein Neapolitaner von seiner Stadt weichen will, daß ihre Dichter von der Glückseligkeit der hiesigen Lage in gewaltigen Hyperbeln singen, ist ihnen nicht zu verdenken, und wenn auch noch ein paar Vesuve in der Nachbarschaft stünden. Man mag sich hier an Rom gar nicht zurückerinnern.“ Doch als der Linke Antonio Bassolino im Dezember 1993 zum Bürgermeister der Stadt gewählt wurde, regierte dort das Chaos. Die Camorra, die neapolitanische Ausformung der Mafia, trieb von den Geschäftsinhabern Schutzgelder ein. Tagsüber klemmten die Damen auf der Straße ihre Handtaschen fest an sich, um nicht Opfer eines „scippo“, eines Diebstahls, zu werden. Nachts blieben die Neapolitaner aus Angst vor der Kriminalität nach Möglichkeit zu Hause. Jede freie Ecke der Stadt wurde als Müllabladestelle genutzt. Die schönen, repräsentativen Plätze waren mit Autos zugeparkt, und an den alten Gebäuden bröckelte der Putz.

Lange Zeit hatte die Stadtverwaltung nichts getan, um dem Verfall entgegenzusteuern. Eine Phalanx aus politischen Potentaten und der Camorra hatte ab den fünfziger Jahren alles darangesetzt, sich aus den öffentlichen Kassen zu bedienen. Milliarden Lire, die zur Entwicklung der Stadt beitragen sollten, verschwanden in dunklen Kanälen. So erhielt Neapel Parkhäuser, die niemand benutzte, Brücken, die niemand brauchte, und öde, zubetonierte öffentliche Plätze. Und einige wenige verdienten daran. Auch der Name des Journalisten Giancarlo Siani gehört zum Neapel jener Zeit: Siani hatte als Reporter der Tageszeitung Il Mattino die Verflechtungen zwischen Mafia und Politik recherchiert und war deshalb 1985 von der Camorra ermordet worden. Erst Ende letzten Jahres wurde der Prozeß gegen die mutmaßlichen Täter eröffnet.

Als Anfang der neunziger Jahre die großen politischen Parteien in die Krise gerieten, weil Verfahren wegen Korruption gegen ihre Mitglieder eingeleitet worden waren, kam Bewegung in die erstarrte soziale Struktur Italiens, auch in Neapel. Mit der Wahl des quirligen, pfiffigen Linken Antonio Bassolino zum Bürgermeister verband sich die Hoffnung auf einen Neubeginn. Der versuchte zunächst, das lädierte Image der Stadt wieder aufzupolieren: Er besichtigte Luxusdampfer, die erstmalig wieder den Hafen anliefen, sprach auf Konferenzen, lud Künstler in die Stadt und weihte einen Technologiepark ein. „Wir haben versucht, von oben her ein gutes Beispiel zu geben“, erklärte er gegenüber der taz. „Wir wollten den Bürgern zeigen, daß man mit Ehrlichkeit, Transparenz und Tüchtigkeit eine Stadt verwalten kann. Daß die Neapolitaner, wenn sie es wollen, auch tüchtiger sein können als andere italienische Städte. Die Neapolitaner haben den Stolz auf ihre Stadt wiederentdeckt.“

Bei seiner Arbeit stützte sich Bassolino auf diejenigen, die ihm den Weg geebnet hatten. Anfang der neunziger Jahre hatten sich ein paar Leute zusammengetan, um die Stadt für ihre Bürger wieder lebenswert zu machen. Sie hatten Konzerte in den verfallenden Kirchen des Stadtzentrums organisiert, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Schätze zu lenken. Sie hatten die Museen auch in manchen Sommernächten geöffnet, um Besucher dorthin zu locken und die Altstadt dem alleinigen Zugriff der Camorra und ihrer Handlanger zu entziehen. So wurde Giulia Parente, die Vorsitzende der Stadtteilinitiative Spaccanapoli, zur „Assessorin für die Zeiten der Stadt“ ernannt. Sie sollte die Lebensrhythmen der Neapolitaner soweit ändern, daß das alltägliche und unerträgliche Verkehrschaos verringert würde. Giulia Parente fackelte nicht lange: Seit vergangenem Winter beginnen in Neapel die Schulen um acht, die Büros um neun, und die Läden, die in Italien gewöhnlich um die Mittagszeit schließen, sind durchgehend geöffnet und machen dafür bereits um acht Uhr abends zu. Ein gewagter Eingriff in die Lebensgewohnheiten der Neapolitaner, der sie um ihre Siesta bringt, jedoch die Anzahl der Autos auf den Straßen verringern soll.

Auch sonst setzte Bassolino auf sichtbare Zeichen: Er ließ die öffentlichen Plätze von Autos räumen und Polizisten dort aufstellen, um die Durchsetzung des Parkverbots zu gewährleisten. In der Innenstadt wurden Streifenwagen, Polizisten auf Motorrädern und Patrouillen aufgestellt, um die Kleinkriminalität einzudämmen. Das Zentrum der Altstadt wurde für den Verkehr gesperrt und zur Fußgängerzone erklärt. Die Reaktion der Neapolitaner auf die neue, umtriebige Stadtverwaltung war vorwiegend positiv. „Bassolino hat den Neapolitanern das Gefühl vermittelt, daß er der Bürgermeister für alle ist und nicht nur für die Sympathisanten einer Partei“, meint etwa Francesco Fusillo, Professor für Philosophie an der Universität. Der Sargfabrikant Salvatore Setola, der in einem Gäßchen in der Altstadt seinen Laden betreibt, zeigt sich realistisch: „Es gibt Verbesserungen, aber sie sind minimal. Es ist noch viel zu tun. Die Gebäude müssen renoviert werden, die sind baufällig. Die Straßen sind noch nicht in Ordnung. Und die Müllabfuhr gibt sich zwar große Mühe, aber es gelingt ihr nicht, den Neapolitaner zu erziehen. Es gibt da alte Laster, da braucht es noch ein paar Jahrzehnte.“

Den Neapolitaner erziehen — das ist leichter gesagt als getan. Denn die Bewohner dieser Stadt sind es gewöhnt, sich um ihr Auskommen selbst kümmern zu müssen. Sie haben sich die Stadt angeeignet, jeder so gut er konnte, und Eingriffen seitens der Obrigkeit begegnen sie mit Mißtrauen. Wie etwa hätte man in dieser Stadt überleben sollen, in der es kaum reguläre Arbeitsplätze gibt, wenn es nicht die „economia del vicolo“, 19#ReiseSonnabend/Sonntag, 25./26. Oktober 1997

die Winkelwirtschaft gäbe? Wie viele Familien hätten kein Einkommen, wenn der Familienvater nicht irgendwo auf der Straße eine Kleiderstange aufgestellt und daran ein paar Anzüge zum Verkauf aufgehängt hätte? Wenn nicht ein Familienmitglied an einer Verkehrsampel Taschentücher, Getränke und Feuerzeuge feilböte oder irgendwo in der Altstadt mit Heiligenbildchen handelte? Und wo, bitte schön, sollen alle die Arbeit finden, die nun an jeder Straßenecke Gürtel, Plastikspielzeug aus Japan, alte Zeitungen oder Schuhe verkaufen oder je nach Wetterlage lauthals Sonnenbrillen oder Regenschirme anpreisen? Wovon sollten die alten Frauen leben, die bislang in der Altstadt in den „Bassi“, den ebenerdigen Einzimmerwohnungen, einzelne Päckchen Kaugummi, ein Feuerzeug oder ein Päckchen Taschentücher zum Verkauf ins Fenster legen? Und was könnte zum Beispiel Peppino tun, wenn er auf seinen Karren verzichten müßte?

Peppino ist 38, sieht aber mit seinem verwitterten Gesicht aus wie 50. Tagaus, tagein steht er neben einem Karren am Platz San Domenico Maggiore, im Herzen der Altstadt. Im Karren liegen alte Lampenschirme, Gipsfiguren, ausgediente Ständer und anderer Trödel. Wenn es regnet, sucht Peppino Schutz an der Hauswand hinter ihm. Das Geschäft mit dem Karren hat er 1973 von seinem Schwiegervater übernommen. Doch ihm wäre lieber, wenn seine Kinder eine andere Tätigkeit fänden, denn: „Auf der Straße wird man schnell alt, man ist oft krank. Wie Sie sehen, sind wir im Freien, dem Wetter und dem Smog ausgesetzt.“

Die Altstadt bietet heute ein friedliches Bild. Gemüsehändler haben ihre Ware auf dem Bürgersteig ausgestellt, Andenkenhändler verkaufen spitze kleine Hörner aus Korallenimitat, gegen den bösen Blick. Überall feilt und sägt jemand in einer kleinen Werkstatt, Nachbarn stehen auf der Straße und unterhalten sich, Jugendliche lungern auf Motorrädern, Kinder schreien. In vielen Ecken hängen Marienbilder, von Glühbirnen milde beleuchtet. Unverhofft öffnet sich in einer engen Gasse ein Tor zu einem palmenbestandenen Innenhof. In dunklen Winkeln stehen Vespas. Und offensichtlich bleiben sie auch stehen. Auch die Touristen sind zurückgekehrt in die einst so übel beleumdete Stadt. Sie flanieren weitgehend unbekümmert und ungestört durch die engen Gassen – auch nachts. Sie tragen ihre Fotoapparate lässig über der Schulter, und ihre Handtaschen baumeln am unverkrampften Arm. Man fühlt sich sichererer in Neapel.

Doch der Friede ist zum Teil nur Schein. Aus den Stadtvierteln La Forcella und Quartieri Spagnoli, die an den beiden entgegengesetzten Enden der Spaccanapoli liegen, veranstalten regelmäßig Jugendliche Exkursionen in die Geschäftsstraßen, in der Hoffnung, dort eine Handtasche schnappen oder eine Halskette wegreißen zu können. Als Verkehrsmittel werden dabei in der Regel gestohlene Motorroller eingesetzt, auf denen die Jugendlichen in halbsbrecherischen Manövern durch den Verkehr kurven. Also alles wie gehabt? In Sachen Auto- und Handtaschendiebstahl nehmen die Neapolitaner nach wie vor die Spitzenposition in der Statistik ein.

Diese Art, das magere Haushaltsbudget aufzubessern, stößt in den armen Stadtvierteln keineswegs auf Ablehnung. Diebstahl wird als eine Art Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums angesehen. Die Beutezüge der Jugendlichen sind nicht nur häufig ihre einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen, sie qualifizieren sie darüber hinaus für Höheres: Für die Camorra. In einer Gesellschaft, in der mehr als die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos ist und keinerlei Aussicht hat, daß sich dieser Zustand je ändern könnte, verfügt eine kriminelle Organisation, die zu Geld und Ansehen verhilft, zwangsläufig über eine große Attraktivität. Offiziellen Schätzungen zufolge bezahlt heute noch ein Drittel aller Ladeninhaber Schutzgelder an die Camorra. Im Laufe der vergangenen Jahre hat diese im übrigen ihre Geschäftsbereiche erweitert: Zu den Gewinnen aus Schutzgeldern, Erpressung und Zinswucher sind die aus Prostitution und Drogenhandel hinzugekommen.

Die Ausrottung der Camorra ist schwierig, denn sie verfügt über ein System von Rückhalt in der Bevölkerung und Drohung: In einer Gesellschaft, in der der Staat durch Abwesenheit glänzte, hat die Camorra für die Einhaltung gewisser Regeln gesorgt und die Funktion der Behörden übernommen. In den vergangenen Jahren sind die großen Bosse der Camorra – wie etwa Raffaele Cutolo – gefaßt und inhaftiert worden, doch in jüngster Zeit hat das zu blutigen Folgen geführt. Seit Anfang Juli liefern sich die verschiedenen Camorra-Clans – 28 sollen es insgesamt sein – blutige Kämpfe um die Vorherrschaft in der Stadt. Die Schießereien haben bereits fast hundert Tote gefordert, Camorristen wie Unbeteiligte. Mitte Juli entschloß sich die Regierung in Rom sogar, angesichts der gespannten Atmosphäre in Neapel 600 Soldaten dorthin zu schicken, um die öffentlichen Einrichtungen zu schützen. Eine drastische, wenn auch vielleicht etwas hilflose Maßnahme. Neapels Bürgermeister Antonio Bassolino schwieg dazu. Er hatte schon immer die Ansicht vertreten, daß ein Ausweg aus dieser Situation nur durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und nicht durch mehr Polizeipräsenz zu erreichen sei.

Angesichts der Schießereien der Camorra-Clans hat Alessandra Mussolini, Enkelin des Duce und heute prominentes Mitglied der postfaschistischen Partei Alleanza Nazionale, den Rücktritt des Bürgermeisters Bassolino gefordert. Das gehört zum Geschäft einer Oppositionspolitikerin. Doch die Mehrheit der Neapolitaner sieht das offensichtlich anders: Neuen Meinungsumfragen zufolge würden sie Bassolino erneut in großer Mehrheit zum Bürgermeister wählen.

Jener Tag, an dem wir auf den Straßen tanzen..., ist unter der Amtszeit Antonio Bassolinos zumindest näher gerückt. Er ließ die öffentlichen Plätze von Autos räumen und Polizisten dort aufstellen, um die Durchsetzung des Parkverbots zu gewährleisten Foto: Pisacreta/Ropi

Hier wird geputzt! Die Neapolitaner haben den Stolz auf ihre Stadt wiederentdeckt, und damit weniger Autos die Straßen verpesten, haben sie sogar ihre Gewohnheiten umgestellt: Für die Läden fällt die Siesta aus Foto: Stefano Montesi/Ropi

Ausgezeichnet