„Zwölf Goldene sollen es sein“

In den Trainingszentren von Havanna rieselt der Putz von den Wänden. Nichtsdestotrotz plant Kubas Chefcoach Alcides Sagarra bei der Amateur-Box-WM seinen größten Coup  ■ Von Knut Henkel

Havanna (taz) – Die Ansprüche von Alcides Sagarra sind schon immer hoch gewesen. Bei einer WM interessiert den Cheftrainer der kubanischen Amateurboxer nur eins. „Die zwölf Goldenen sollen es sein, wir wollen in allen Gewichtsklassen, vom Halbfliegen- bis zum Superschwergewicht die Titel erringen“, hat der Comandante des kubanischen Boxsports unlängst lächelnd gesagt und sich dabei über seinen Bauchansatz gestrichen. Das hat selbst er noch nicht geschafft, der wie kaum ein anderer den kubanischen Boxsport geprägt hat. Seit 1964 steht Sagarra (61) an der Spitze des Trainerkollektivs der Nationalequipe.

Etwa 40 Weltklasseboxer trainieren unter seiner Regie, und sie haben in den vergangenen Dekaden den internationalen Amateurboxsport dominiert wie keine andere Nation: 23 olympische Goldmedaillen und je 42 Weltmeistertitel bei Junioren und Erwachsenen heimsten sie ein.

Betritt man eines der Trainingszentren zeigt sich ein widersprüchliches Bild: kein High-Tech, keine aufwendigen Gerätschaften, um die Schlagkraft zu stärken – spartanisch geht es in der „Academia Provincial Mulgabo“, dem Leistungszentrum für die Boxer aus der Hauptstadt zu. Trainiert wird in einer großen Halle, deren Wände schon lange keine Farbe mehr gesehen haben.

Der Putz rieselt von den Wänden und mitten drin stehen die Reste einer Mauer, die die Boxer selbst mit Vorschlaghämmern bearbeiten – es wird renoviert, das erste Mal seit etlichen Jahren, wie Alberto Brea (42), verantwortlicher Trainer, erzählt: „Wir bemühen uns, das Gelände in Schuß zu bringen. Wir renovieren soviel wie möglich, allerdings fehlt es an allen Ecken und Enden an Baumaterial.“ Ganze vier Paar Boxhandschuhe stehen dem Trainerteam um Brea zur Verfügung. Seine Schüler treten entweder in Turnschuhen in den Ring, die nur noch durch Leukoplast zusammengehalten werden – oder barfuß.

Sandsäcke werden durch alte Reifen ersetzt, die von der Decke baumeln, und im Kraftraum stehen gerade einmal zwei zerschlissene Hantelbänke. „Um die materielle Basis unseres Sports steht es nicht zum besten, aber – wir bauen neue Champions auf“, sagt beinahe trotzig Brea, selbst vierfacher kubanischer Meister. „Natürlich stimmt es, daß es immer mal wieder an Boxhandschuhen oder Bandagen fehlt und daß viele der jungen Boxer keine Turnschuhe, keine Sportbekleidung haben“, sagt er. „Das wesentliche ist aber, daß sie hier lernen können, ihre Technik verbessern und sich mit besseren oder ähnlich guten Boxern messen können.“

Das Konzept scheint aufzugehen. Im Kader von Brea stehen neben talentierten Nachwuchsboxern auch Faustkämpfer mit internationaler Erfahrung, wie Juan Carlos Quesada (24), Juniorenweltmeister von 1990. Auch Yurkis Sterlin (19) hat beste Chancen, in den A-Kader des anspruchsvollen Sagarra vorzustoßen. Im Training macht er mit Victor Anselmo (16), einem Superschwergewichtler, was er will. Brea muß den schlagkräftigen Sterlin zurückpfeifen, damit er den Jüngeren nicht allzu toll vermöbelt.

Doch beide Talente werden sich mit dem Aufstieg gedulden müssen, denn sie treten in einer Klasse an, die seit einem Jahrzehnt von einem Ausnahmeboxer dominiert wird: Félix Savón. Der Schwergewichtler ist international seit dem Juli 1989 unbesiegt: in 100 Kämpfen schaffte er es, stets als Sieger aus dem Ring zu klettern. Auf nationaler Ebene ist seine Bilanz nicht ganz so blütenrein: die letzte Niederlage datiert vom 31. Januar 1997. In der Stadt Holguin ging Savón gegen Juan Delis auf die Bretter. K.o. in der zweiten Runde, was Savón (30) folgendermaßen kommentierte: „Ich habe mich auf meine Routine verlassen, und dann traf mich unerwartet dieser Punch. Das wird mir eine Lehre sein.“ Es scheint, als habe Sagarras Musterschüler die Lektion tatsächlich begriffen. Die Revanche gegen Delis im Juli konnte er klar und deutlich für sich entscheiden. In Budapest will er zum sechsten Mal in Folge den WM-Titel gewinnen.

Auch Maikro Romero, Olympiasieger von Atlanta, ist in Budapest dabei, was seinen ehemaligen Trainer Brea besonders freut. Breas aktuelle Bilanz kann sich ohnehin sehen lassen: neun Boxer aus dem A-Kader und weitere sechs aus dem Juniorenkader stammen aus seinem Stall. „Wenn Maikro in bester Verfassung ist – und daran zweifle ich nicht –, ist er eine Medaillenbank.“ Das bestätigt auch Sagarra, der Romero genauso wie Ariel Hernández, Héctor Vinent oder Savón zu seinen gelehrigsten Schülern zählt.

Entdeckt wurden diese Boxer allesamt auf Sportfesten, bei Provinzmeisterschaften oder bereits in der Schule. Überall lauern die staatlichen Talentspäher. Savón wurde auf einem Sportfest in seiner Heimatstadt Guantanamo entdeckt, „gewogen und vermessen“, wie es in Kuba heißt, und nach einigen Tests zu den Boxern geschickt. Savón, sagt Sagarra, mußte man „nie antreiben“, womit er sich den Respekt des bestimmt nicht nachsichtigen Trainers sicherte. „Es ist nicht leicht ein derart hohes Niveau über Jahre zu halten, sich immer wieder neu zu qualifizieren in einem Land, in dem es mehr als 200 Weltklasseboxer gibt“, sagt Sagarra. Auch die Ausnahmeboxer wie Savón, Hernández und Vinent müssen erst einmal durch die nationale Qualifikation, und dies ist „kein leichtes Unterfangen“, wie der Cheftrainer brummt. In manchen Klassen kann es tatsächlich schwerer gewesen sein, als sich in dieser Woche zum WM-Titel durchzuboxen. Heute wird es in Budapest ernst; die Viertelfinals stehen an, und einer, der es diesmal nicht geschafft hat, ist Héctor Vinent, Doppelolympiasieger im Halbweltergewicht. Er sitzt zu Hause, da Roberto Guerra die Qualifikation für sich entscheiden konnte. Auch Ariel Hernández hatte Mühe, sich zu qualifizieren.

Auf der streng abgeschirmten Finca Orvein Quesada bereitet Sagarra seine 40 Besten auf die internationalen Turniere vor, bringt sie auf die Minute in Bestform. Sein Prinzip: Disziplin, denn „ohne Disziplin erreicht man gar nichts“.

Einige Weltklasseboxer entzogen sich allerdings dieser Kontrolle und damit auch den Widersprüchen des kubanischen Alltags: sie setzten sich ins Ausland ab, wie Juan Carlos Gómez, der im Cruisergewicht für den Hamburger Promoter Klaus-Peter Kohl demnächst um die WBO-WM boxen wird. Diosvelis Hurtado und Jorge Luis boxen in den USA professionell. Für Sagarra ist das deren Problem. „Es ist ihr Risiko, wenn am Ende die Gesundheit auf der Strecke bleibt, und die ist mehr wert als all das Geld.“