Späte Gewissensbisse

Fünfeinhalb Jahre Bürgerkrieg und 120.000 Tote brauchte es, bis die internationale Gemeinschaft nach Wegen zur Überwindung des Machtkampfes zwischen Algeriens Armee und den Islamisten sucht. Eine internationale Algerien-Konferenz, wie sie Teile der Opposition in Algier fordern, könnte der Anfang sein  ■ Von Reiner Wandler

Der algerische Außenminister Ahmed Attaf ist hart im Nehmen. Ob Protestnoten der europäischen Länder, des Vatikans oder von UN- Generalsekretär Kofi Annan: Attafs Antwort ist stets die gleiche. Er verwahrt sich gegen „jedwede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Algeriens, einem freien, souveränen Land“. Die Lösung des seit 1992 anhaltenden Konfliktes im nordafrikanische Land sei eine interne Angelegenheit, der Terrorismus sei fast besiegt. Bundesaußenminister Klaus Kinkel fragte letzte Woche angesichts der neuen Massaker vor der UN-Vollversammlung: „Wie lange kann die Weltgemeinschaft ihre Augen verschließen?“ Warnend fügte er an, die UNO sei schließlich nicht impotent. Sein algerischer Amtskollege Attaf ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er protestierte wie gewöhnlich: keine Einmischung.

Der Westen unterstützt die Militärs seit 1992, seit beim Abbruch der ersten freien Wahlen mit dem anschließenden Verbot der siegreichen Islamischen Heilsfront (FIS). Lieber Generäle als die Islamisten an der Macht, vor allem wenn jene kostbares Erdöl und Erdgas im Lieferprogramm haben. 120.000 Tote hat es in diesen fünfeinhalb Jahren gegeben. Das Leiden der Menschen wurde in Algerien verschämt übergangen.

Anfang September bekam der Krieg gegen die Bevölkerung plötzlich auch hierzulande ein schreckliches Gesicht. Pressefotographen war es erstmals gelungen Bilder der Massaker zu übermitteln. Die unglaubliche Brutalität der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA), die in Rais, einem Vorort von Algier, über 400 und im nahe gelegenen Benthala über 200 Menschen ermordeten, rüttelte das internationale Gewissen wach. Die Untätigkeit der Soldaten, die trotz stundenlanger Hilfeschreie der Opfer ihre nahe gelegenen Kasernen nicht verließen, um zu Hilfe zu eilen, durchbrach die Mauer des Schweigens. „Menschenrechte kennen keine Grenzen“, hielt die UN-Kommissarin für Menschenrechte, Mary Robins, Attaf am Rande der UN-Vollversammlung vor. UN-Generalsekretär Annan schließt sich der späten Einsicht der ehemaligen irischen Staatspräsidentin an. Auch Annan fordert „eine schnelle Lösung“.

An eine militärische UN-Mission, wie im ehemaligen Jugoslawien ist dabei nicht gedacht. Doch selbst zur weniger problematischen Durchführung einer internationalen Algerien-Konferenz, die den Konflikt ausleuchten und versuchen könnte, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen, konnten sich bisher weder Europa noch die USA durchringen. Nach dem Gewaltverzicht der FIS und ihres bewaffneten Armes, die Armee des Islamischen Heils (AIS), scheint dies zwar leichter, doch müßte einer den ersten Schritt tun.

In Frankreich, der ehemaligen Kolonialmacht Algeriens, wird vor allem seit dem Massaker von Benthala Handlungsbedarf gesehen. „Es reicht nicht, daß wir unsere Empörung zum Ausdruck bringen“, erklärt der Sprecher der Sozialistischen Partei (PS) von Regierungschef Jospin, François Holland, er fordert eine „Internationalisierung“ des Konflikts. „Die algerischen Verantwortlichen schulden der internationalen Gemeinschaft eine Erklärung“, befindet auch der französische Exaußenminister Hervé de Charette.

Aber Frankreichs neue Regierung unter dem Sozialisten Lionel Jospin tut sich schwer mit dem Thema Algerien. Zwar fand der Premier Anfang der Woche in einem Fernsehinterview ungewöhnlich harte Worte, er schreckt aber noch immer vor einem wie auch immer gearteten internationalen Vorstoß zurück. „Wir sind gegen eine fanatische und gewalttätige Opposition, die gegen eine Regierung kämpft, die selbst in einer gewissen Weise auf Gewalt und die Macht des Staates setzt.“ Jospin kritiserte erstmals nicht nur die Islamisten, sondern auch den algerischen Statspräsidenten Liamine Zéroual. „Wir müssen vor allem bescheiden sein“, verteidigte er dennoch die Zurückhaltung seiner Regierung, die das algerische Regime jährlich mit einer Milliarde Dollar unterstützt. Er erinnerte an die Anschläge der radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) im Herzen von Paris: „Ich muß auch an Frankreich denken. Ich muß auch ein Auge auf diese Frage haben, das ist meine Verantwortung.“ Die einzige Maßnahme, die Jospin bisher in Aussicht stellte, ist eine Lockerung der Visa- vergabe für Algerier, die das Bürgerkriegsland in Richtung Frankreich verlassen wollen.

Allein möchte sich Paris auf keinen Fall in Algerien einmischen. Ein Partner muß her. So traf sich der französische Außenminister Hubert Védrine am Rande der UN-Vollversammlung mit seiner US-amerikanischen Kollegin Madeleine Albright. „Ein vermittelndes Eingreifen der UN ist nicht mehr von vorn herein auszuschließen“, gab Albrights Sprecher James Rubin anschließend der Presse zu Protokoll. Védrine war vorsichtiger. Er sprach nur von einem geplanten „engen Kontakt“ zwischen Paris und Washington.

Die USA gehört mit ihren Waffenlieferungen an die Armee und ihren Investitionen in die Erdölförderung zu einem der wichtigsten Partner von Präsident Zéroual. Die Nähe beweist auch die jüngste Entwicklung im Westsaharakonflikt, den der ehemalige US-Außenminister James Baker im Auftrag von UN-Generalsekretär Kofi Annan lösen soll.

Die Polisario, die für eine Unabhängikeit der seit 1976 von Marokko besetzten ehemaligen spanischen Kolonie kämpft, wird von Algerien unterstützt. Baker hat es geschafft, den seit Jahren ins Stocken geratenen Prozeß zur Vorbereitung eines Referendums über die Zukunft des Landstrichs wieder in Gang zu setzen, indem er Marokkos Widerstand überwandt.

Gleichzeitig haben die USA ihre Kontakte zum islamistischen Lager nie ganz abbrechen lassen. Den Vereinigten Staaten steckt das Fiasko nach dem Machtwechsel im Iran noch in den Knochen. Die Regierung in Washington mag seither nicht mehr alles auf eine Karte setzen, um dann vielleicht alles zu verlieren. Darüber hinaus diktiert das Erdölgeschäft die Maxime der US-Außenpolitik. So fanden Teile der gewählten und durch den Putsch nie zusammengetretene FIS-Parlamentsfraktion in USA Unterschlupf. Die Doppelstrategie verschafft Washington eine gute Ausgangslage, falls es tatsächlich zu einer internationalen Vermittlung kommen sollte.

Der spanische Außenminister Abel Matutes begrüßt das verstärkte diplomatisches Engagement der USA in Nordafrika. Der Chef der spanischen Diplomatie traf sich ebenfalls am Rande der UN-Vollversammlung mit seinem französischen und italienischen Kollegen, um über eine gemeinsame Politik der EU-Mittelmeeranrainer nachzudenken. Madrid fürchtet, der Algerienkonflikt könne auch die beiden Nachbarn Tunesien und Marokko anstecken. Das hätte für Spanien, das traditionell gute Beziehung mit den Maghrebländern unterhält, nicht nur wirtschaftliche, sondern durch die geographische Nähe in Form steigender Flüchtlingszahlen vor allem soziale Folgen.

Im Bonner Auswärtigen Amt betrachtet man noch etwas ungläubig, aber auch mit Sympathie, den vermeintlichen Schulterschluß zwischen den beiden Rivalen um Einfluß in Afrika, Frankreich und USA. Außenamtschef Kinkel will allerdings trotz seiner Rede auf der UN-Versammlung nicht aktiv werden, um – wie von Grünen und amnesty international gefordert – eine internationale Algerien-Konferenz ins Leben zu rufen. Die Generäle in Algier lieferten allein im letzten Jahr für 1,55 Milliarden Mark Waren, meist Rohöl, in die Bundesrepublik. Sie avancierten damit zum zweitwichtigsten Energielieferant Deutschlands, sie sollen nicht über Gebühr verärgert werden.

Die deutsch-algerischen Beziehungen sind ohnehin nicht einfach, seit dem Vorsitzenden der FIS- Auslandsleitung, Rabah Kebir, und den beiden Söhnen des FIS- Mitbegründers Abassi Madani in Deutschland Asyl gewährt wurde. Kebir wurde zwar mit einem Politikverbot belegt. Doch seit einige Tagen hält er sich nicht daran. Anstelle des üblichen Stempels unter den Erklärungen der FIS, prangt unter dem letzten Dokument Kebirs Unterschrift. Die FIS rief darin zum Gewaltverzicht auf. Um Erlaubnis habe der Islamistenführer nicht nachgefragt, bestätigt ein Mitarbeiter des Außenministeriums. „Aber man kann Kebir ja schlecht gerade jetzt mit Repressalien belegen, wo er sich für eine friedliche Lösung stark macht.“

Das Auswärtige Amt setzt auf kleine Schritte, vor allem im Wirtschaftsbereich. Mit der Begründung, Investitionen schaffen Arbeitsplätze und entschärfen so den sozialen Sprengstoff, sichert Bonn Risikoinvestitionen deutscher Unternehmen im nordafrikanischen Land ab. Und anstatt wie Frankreich wenigstens über erleichterte Visa-Bedingungen nachzudenken, vereinbarte Bonn mit dem Regime von Präsident Zéroual die „Rücknahme“ abgelehnter Asylbewerbern. Wenn alles läuft wie vorgesehen, dürfen bald 6.000 hier lebende Algerier das aus der Nähe betrachten, was Außenminister Kinkel in seiner Rede in New York den „Atem stocken“ ließ.