Vom Norden in die Breite und nach Innen

■ Der Hip-Hop-Sampler „Innenseite“zwingt die ganze Szene zum Nachdenken

Auf Reime nur um des Reimens willen hatte Vincente Celi diesmal keine Lust. „Ich wollte Geschichten, nicht nur Metaphern und Skills,“erklärt Bremens wichtigster Hip-Hop-Produzent die Idee hinter seinem neuesten Plattenprojekt, dem „Innenseite“-Sampler.

Weil ihm als Chef des Bremer Labels Operation 23 die üblichen Rap-Texte zu doof waren, hat er diesmal im Gegensatz zu den Vorgängerplatten „Nordseite“und „Breitseite“strenge inhaltliche Maßstäbe angelegt. Celi: „Ich finde, es gibt zu viele, die andere einen Kopf kleiner machen, um sich selbst einen Kopf größer zu machen.“Schlau also sollten die Stücke sein und in irgendeiner Form das Innenleben der Rapper beleuchten – eine harte Vorgabe für eine Szene, die textlich in der Regel von erfundenen Gaunergeschichten, Angeberei und vom „Dissen“, also der gereimten Beschimpfung der Szene-Kontrahenten lebt.

Kein Wunder, daß es deshalb erstmal bei einigen, die Celi ansprach, lange Gesichter gab. „Da waren wirklich welche, die das nicht gecheckt haben,“sagt er. Die Folge: Samplerausschuß, egal wie gut die Musik war. „Ich bestreite nicht, daß ich Künstler abgelehnt habe, weil mir das nicht zum Sampler paßte. Aber hier ging es konkret um diese Platte. Ich akzeptiere ja ansonsten, was die Leute machen, solange jemand wirklich so drauf ist und nicht bloß irgend so ein Sozialpädagogikstudent den harten Reimer mimt.“

Trotz gelegentlicher Enttäuschung von den Ausgeschlossenen ist die „Innenseite“trefflich gelungen. Dank der gemeinsamen inhaltlichen Klammer wirkt die Scheibe wie aus einem Guß. Die „Innenseite“ist die ruhigste, entspannteste, aber auch athmosphärischste Operation 23 Platte geworden. Denn die nachdenklichen Texte erforderten neue Klänge.

Bremer Formationen, die gut die Hälfte der CD füllen, schneiden dabei besonders gut ab. Ernst, ein Projekt von Celis Intimus Nourdin Ghanem, bringt kunterbunte Jazzsamples ins Spiel, die mit sicherem Harmonieverständnis den Refrain von „Cool“akzentuieren. Zentrifugal erreichen die Einheit von Klang und Sprache mit einem hypnotisch pochendem Sequenzer-Stakkato. Aus dem eisenbahn-ähnlichen Gewummer entwickelt sich eine treffliche Athmosphäre für ihre rastlose „Nachtfahrt“. Lyrical Poetry überraschen bei „Am anderen Ende Licht“mit einer von wabernden Keyboards unterlegten Seelenreise in Nirvana-Esoterik und Rap als entspanntem Trance-Crossover.

Auch Osterholz Tenevers erfolgreichster Rap-Export F.A.B. überraschen bei ihrem ungewohnt funkigen „Graue Zellen“. „Andere gehen nur körperlich in die Breite,“reimt Immo, um sich selbstverständlich von solchem Kanzlerverhalten abzugrenzen und zu betonen, daß er auch geistig zugelegt hat. Basti von Loonatic Flava schließlich beginnt, „darüber nachzudenken, wie zwei Zeiger und ein Zifferblatt unsere Geschichte lenken ... dadurch, daß wir Zeit in Sekunden messen, wird Präzision gefördert, doch Emotion vergessen.“

Zum vielleicht ersten Mal in der Geschichte des deutschen Hip Hop gehören Rückblende, Wechsel in der Erzählerperspektive und merkwürdige Instrumente wie die Oboe zum guten Ton. Sogar über das Altwerden dürfen die coolen Homeboys nun laut nachdenken. „Für alle wird's mal Herbst, auch für Hip Hopper,“erklärt Celi.

Solche Töne waren bislang in der Szene rar. Natürlich kann die „Innenseite“nicht mehr als ein Versuch sein, Brücken zwischen Hip-Hop und Hochkultur zu bauen. Vor allem aber scheint die „Innenseite“allein durch ihre Existenz eine ganze Menge Grübeln in der deutschen Hip Hop Szene zu verursachen. Celi: „Einige haben erst während des Entstehens der Songs begriffen, was ich meine.“Ein durchweg hörenswerter erster Schritt aus dem Reich der gereimten Stupiditäten ist gemacht. Lars Reppesgaard