Kurt Scheels Lichtspiele
: Zoon vergnügikon

■ Gott, war ich beliebt! Aus dem Leben eines Kinokerlsohnes (1948–1960)

Als ich 1948 auf den Plan trat, herrschte eitel Freude: Ich war natürlich ein Wunschkind, und ich wurde kurz vor der Währungsreform geboren, weshalb es für mich 40 Deutschmark Kopfgeld gab. Wie aber würde es mit den „Altenwerder Lichtspielen“, dem Kino meiner Eltern, weitergehen, jetzt, wo das Geld so knapp war?

In den ersten Wochen sah es tatsächlich trübe aus, aber dann zeigte sich doch, daß der Mensch ein Zoon vergnügikon ist, und das Kino mit seinen dreihundert Plätzen war wieder voll. Auch die englische Besatzungsmacht zeigte ein Einsehen, statt nur viermal pro Woche konnte täglich gespielt werden, und sogar die deutsche Filmwirtschaft begann sich zu berappeln: Waren von 1946 bis 1948 nur insgesamt 52 Filme produziert worden, so wurden ab 1949 jährlich 90 Filme und mehr fertiggestellt.

Wiederaufbau! Bundesrepublik! „Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, der deutsche Bauch wird runder, jetzt schmeckt das Eisbein in Aspik: Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg!“ singen Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller in Kurt Hoffmanns „Wir Wunderkinder“ sehr treffend.

Mit drei, vier Jahren, die Historiker sind sich da nicht ganz einig, durchschreite ich zum erstenmal die Pforten des Paradieses: Sonntag, 13 Uhr, Große Kindervorstellung – Märchen, Dick & Doof, Fuzzy und, am allerschönsten, Zeichentrickfilme.

Bald darf ich auch in die sonntägliche 17-Uhr-Vorstellung. Diese ewigen Heimatfilme – „Grün ist die Heide“, „Der Förster vom Silberwald“ – gefallen mir zwar viel weniger als die geliebten Cowboy-, Ritter- und Piratenfilme, in denen das Kind mit der Leinwand verschmilzt – „cinéma pur“ (Godard) –, aber die Nachmittags

vorstellung fasziniert durch das, was sich im Saale abspielt: verschärfte Knutscherei.

Ich finde das eher befremdlich, betrachte es sozusagen mit soziologischem Blick, aber als dann 1956 die leichtbekleidete Marion Michael als „Liane, das Mädchen aus dem Urwald“ im Kino auftaucht, beginne ich mich ernsthaft zu fragen, ob mein bis dato distanziertes Verhältnis zum „anderen Geschlecht“ (Simone de Beauvoir) nicht einer grundlegenden Revision bedarf – Karin Fahje und viele, sehr viele andere Mädchen können meine eindeutige Antwort auf diese Frage bezeugen...

Das Kino ist gut besucht, ziemlich egal, was gespielt wird; ob Schlagerfilme mit Peter Alexander und Caterina Valente, Peter Kraus und Conny Froboess, ob Western mit John Wayne oder Jimmy Stewart, ob Krimis oder Kriegsfilme, „Sissi“ oder „Ich denke oft an Piroschka“ – die fünfziger Jahre waren filmkunstmäßig wohl kein goldenes Zeitalter, auch politisch eher bedenklich (Kalter Krieg, Adenauer-Restauration!), aber für den Kinokerl und seinen Sohn strahlten sie in hellem Glanz.

Doch es ziehen erste Wolken auf. Die Zeiten, wo ich mit meinen Kumpanen, die umsonst ins Kino dürfen (Gott, war ich beliebt!), in der ersten Reihe sitze („Rasiersitz“), neigen sich dem Ende zu. Zum Kartenabreißer promoviert, beginnt für mich ein schleichender Prozeß der Entfremdung meinen Freunden und dem jugendlichen Publikum gegenüber – sie wollen Spaß haben und Radau machen, ich soll für Ordnung sorgen („Ruhe!“). Ich beziehe nun einen Eckplatz in der letzten Reihe und regle den Ton. Einsamkeit umweht mich, und all der freigestellte Süßwarenverzehr – Langnese-Eis, Maoam, Bounty, Afri-Cola – kann nicht darüber hinwegtrösten, daß ich nun auf der anderen Seite stehe: ein Tonio Kröger unter 300 Hans Hansens...

Anfang der sechziger Jahre wurde das Geschäft schlechter, immer mehr Leute hatten einen Fernseher und ein Auto, warum sollten sie monatelang warten, bis ein angesagter Film ins Dorfkino kam? Da half es wenig, daß wir renovierten, Polstersitze bekamen, die Wände wurden zur Verbesserung des Tons mit einem Spezialstoff bespannt, und die neuen, gebraucht gekauften Siemens-Maschinen geben mit ihren Kohlenbogenlampen sowieso ein viel besseres, wärmeres Licht als dieses neumodische Xenon-Verfahren.

Ich durfte jetzt alle Filme sehen, mit Ausnahme der ab 18 freigegebenen, vier Stück pro Woche, Programmwechsel war

Montag, Mittwoch, Freitag, und dann noch die Kindervorstellung. Da war natürlich unglaublich viel Schrott dabei, aber das war nicht zu vermeiden: Jeder Verleih bestand darauf, daß man zu den drei, vier Perlen noch mindestens zehn „Plotten“ übernahm: entweder – oder.

Ich erinnere mich gut an die stundenlangen erbitterten Diskussionen, wenn die Filmvertreter meinen Vater besuchten – Maastricht-Verhandlungen sind eine matte Sache dagegen –, und am Ende mußte er dann doch einen Vertrag abschließen über Filme, von denen er wußte, daß die meisten nichts taugen.

Woher er das wußte? Er war eben ein richtiger Kinokerl – das kann man nicht lernen, das ist Begabung, und manchmal vererbt sie sich, wie Sie an mir sehen können. Kurt Scheel