„Ich arbeite für meine Seele“

Ein Postfach, ein Computer und eine Kommode: Der Kriegsflüchtling und Journalist Muhamed Ramić produziert mit geringen Mitteln eine monatliche Exilzeitschrift für Bosnier aller Volksgruppen  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Das ist jeden Morgen sein Weg: an der Stadtmauer entlang, am Hauptbahnhof vorbei zum Hauptpostamt. Ein wenig gebückt steuert der 48jährige Muhamed Ramić auf das Postfach mit der Nummer 4437 zu. Mit einer Schlüsselumdrehung öffnet sich das Tor zur Welt.

Ramić entnimmt dem Fach Briefe und Karten aus Australien, Kuweit, den USA, Schweden, Großbritannien, Frankreich und Italien. Noch in der Halle sichtet er seine Post und weiß, daß die nächste Ausgabe der Zeitschrift mit dem unscheinbaren Titel MM gesichert ist.

„Unsere Zeitschrift ist eine Brücke“

MM steht für „Mostarski mostovi“, die „Brücken von Mostar“. „Unsere Zeitschrift ist eine Brücke, sie verbindet Menschen aus der ganzen Welt, die aus Mostar fliehen mußten“, sagt Ramić. Er selbst lebt seit Oktober 1993 als Bürgerkriegsflüchtling in Nürnberg. Der Titel des Monatsblatts, das im März 1996 unter seiner Regie gegründet wurde, steht auch für ein Ziel: „Vielleicht gelingt es uns, die Sehnsucht der Flüchtlinge auf Rückkehr zu wecken.“

Wenn Ramić von der tiefgrünen Neretva schwärmt, die durch Mostar fließt, wenn er von Granatäpfeln und Feigen erzählt und von der Altstadt der einstmals 120.000 Einwohner zählenden Hauptstadt der West-Herzegowina, dann bekommt seine Stimme einen anderen Klang. Dann reiht der sonst eher bedächtig und langsam sprechende Bosnier die Worte schnell und heftig aneinander. Die Erinnerungen sind schmerzhaft lebendig: an seine Kindheit, an seine Zeit als Journalist bei Radio Mostar, an seine muslimischen, kroatischen und serbischen Freunde. An eine Zeit, in der es egal war, wem man sich zugehörig fühlte oder wem man zugeordnet wurde.

Die 1566 erbaute Alte Brücke von Mostar, das Wahrzeichen der Stadt, gibt es nicht mehr. Ramić hat es gesehen. Zweimal war er zu Kurzbesuchen in Mostar, zuletzt im April. Die mächtigen Steinquader, die einst die Schlucht zwischen dem Ost- und Westteil Mostars in einem kühnen Bogen überspannten, stürzten nach dem Beschuß kroatischer Artillerie in die Neretva. Alle Moscheen sind zerstört. Mostar ist eine geteilte Stadt. Im Westen herrschen die Kroaten, im Osten die Muslime.

In Ramić' ehemaliger Wohnung im Westen wohnt eine kroatische Familie. Die Straße, einst benannt nach Blagoje Paravić, einem serbischen Kämpfer bei den Internationalen Brigaden in Spanien, heißt jetzt nach Peter Kresimir IV., dem letzten kroatischen König, der das Land bis 1059 regierte. Von den 80.000 Menschen, die heute zwischen den Ruinen leben, wohnte nur knapp die Hälfte schon vor dem Krieg in Mostar. Die anderen sind geflohen oder tot. „Bei uns in Mostar“, erzählt Ramić, „hat sich eines der tragischsten Kapitel des Krieges in Bosnien-Herzegowina abgespielt.“

Mit den Angriffen der Serben fing es an, dann kamen die Kroaten, die ihre einstigen Verbündeten, die bosnischen Muslime, erbittert bekämpften. Schließlich wollten Serben und Kroaten Bosnien unter sich aufteilen. Im Oktober 1992 verlor Ramić, wie die meisten Muslime, seinen Arbeitsplatz. Mostar wurde eingekesselt. In der osmanischen Altstadt saßen 50.000 Menschen fest. Im Frühsommer 1993 verhafteten die kroatischen Militärs in einer Blitzaktion alle wehrfähigen Muslime und brachte sie in Lager. In Rodoc, am Rand von Mostar, wurde Ramić mit 5.000 Männern in einer stillgelegten Flugzeugfabrik interniert. Mostars Gefängnisdirektor Zlatko Aleksovaski führte ein Schreckensregiment. Für seine Kriegsverbrechen muß er sich in Den Haag verantworten.

Erst nach drei Monaten war das Martyrium für Ramić zu Ende. Was im Lager geschah, darüber kann er noch immer nicht reden. „Das sind Bilder, die ich verdrängen möchte, weil sie mich im normalen Leben stören“, erzählt er so stockend, als müßte er dafür um Verzeihung bitten. Seine Augen verraten, daß er ihnen nicht entfliehen kann.

In Rodoc nahm Ramić 25 Kilogramm ab. Wegen chronischer Magenschmerzen mußte er sich in ärztliche Behandlung begeben. Im Oktober 1993 floh er mit seiner Frau Badema und dem 12jährigen Sascha nach Nürnberg. Seine damals 17jährige Tochter Aida hatte er schon ein halbes Jahr vorher zu Verwandten geschickt, die ebenfalls nach Bayern geflüchtet waren. Die Deutschen kannte Ramić bis dahin nur als Touristen, Nürnberg sagte ihm nichts. Nach einem halben Jahr fand die Familie eine kleine Zweizimmerwohnung in der Innenstadt mit Blick auf Polizeiwache und Kaufhaus.

„Wenn man aus dem Lager kommt, ist nichts zu klein“, sagt Ramić, der mit seiner Frau im Wohnzimmer auf der Couch schläft. Über der hängt – wie auch anders – ein Bild von der Alten Brücke in Mostar. Sohn Sascha, der inzwischen die neunte Klasse der Realschule besucht, hat ein kleines Zimmer, das er bis vor kurzem mit seiner Schwester teilen mußte. Jetzt hat Aida geheiratet und ist ausgezogen.

Sascha muß sein Zimmer aber trotzdem noch teilen – mit seinem Vater. In einer Ecke, unter all den Postern von Michael Jordan und den Chicago Bulls, befindet sich die Redaktionsstube von MM. Ein winziger Schreibtisch, überladen mit Manuskripten, ein Computer, ein Drucker und eine Kommode, in der sich Fotos, Postkarten und Briefe stapeln – hier sind die bisherigen dreizehn Ausgaben von MM entstanden, jedesmal 40 Seiten. Herausgeber ist der „Verein der Bürger und Freunde von Mostar“ in Nürnberg. Chefredakteur ist Muhamed Ramić.

Die Ramić' leben von Sozialhilfe. Eine Arbeitserlaubnis haben sie als Bürgerkriegsflüchtlinge nicht, Arbeit hat Muhamed Ramić aber mehr als genug. Tag und Nacht sitzt er über seiner Zeitschrift. Wenn es auf den Redaktionsschluß zugeht, unterstützt ihn sein Kollege Nenad Zujo. Er kommt aus Hanau und wohnt dann auch noch in den beiden Zimmern der Ramić'. Die beiden Redakteure müssen jeden Artikel noch einmal abtippen, weil sie keinen Scanner haben, bevor Ramić am Bildschirm die Seiten umbrechen kann. Die Fotos rastert er selbst, auch die Druckplatten stellt er selbst her.

Sind die 1.000 Exemplare dann gedruckt, verschickt er sie an die Abonnenten in alle Welt und schaut, wie er die 4.200 Mark für die nächste Ausgabe zusammenbekommt. Die IG Medien und auch Hans Koschnick, der ehemalige EU-Administrator in Mostar, unterstützen ihn. Das restliche Geld kommt durch Spenden von Exilmostarern zusammen. Die Zeitungsarbeit ist für Ramić eine Art Psychotherapie: nicht nur um seine Erlebnisse zu verarbeiten, sondern auch, um sich auf die Zukunft in seiner Heimat vorbereiten zu können. „Ich arbeite für meine eigene Seele“, sagt er.

In kürzester Zeit ist MM zu einem Verständigungsorgan zwischen den weltweit verstreuten Bürgern von Mostar und den noch in Mostar lebenden Menschen geworden. Sie schreiben Arikel für MM und bilden, so Ramić, „über diese Zeitung eine einzigartige Kommunikationsbrücke“. „Es ist das Problem von ganz Jugoslawien, daß alle fähigen Köpfe ins Ausland geflohen sind“, sagt der Journalist.

Ramić sieht seine Zeitschrift als „wichtigen Schritt zum Wiederaufbau der multiethnischen und multikulturellen Stadt Mostar“. 1.800 Adressen von Mostarern in aller Welt umfaßt seine Kartei. Die Botschaft von Bosnien-Herzegowina hat Ramić deshalb für die anstehenden Kommunalwahlen um Hilfe bei der Suche nach wahlberechtigten Mostarern gebeten.

„Keine Volksgruppe kollektiv beschuldigen“

Ramić kann und will – auch nach dem, was er durchgemacht hat – „keine Volksgruppe kollektiv beschuldigen“. So erinnert er sich an einen seiner Bewacher in der Flugzeugfabrik, einen Kroaten, der ihm Kleidung und auch etwas Essen zukommen ließ. „Die Augen meiner muslimischen Freunde waren voller Angst, genau die gleiche Angst sah ich in den Augen dieses Kroaten. Trotzdem hat er mir geholfen.“ Für den bosnischen Muslim gibt es „keine andere Form, als daß alle zusammenleben“.

In MM funktioniert das Zusammenleben schon recht gut. Die Autoren kommen nicht nur aus der ganzen Welt, unter ihnen sind auch Kroaten und Serben. Der ehemalige Oberbürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanović, der jetzt in Wien lebt, gehört genauso zu den Autoren wie Zlatka Dizdarević, Chefredakteur der in Sarajevo erscheinenden unabhängigen Wochenzeitung Svijet. Der kroatische Philosoph Predrag Matvejević liefert Beiträge aus Rom, der Serbe Miso Marić aus London. Und die Karikaturen im Heft stammen von Ismet Ita Korjenić, der nach Sidney geflüchtet ist. Auch Bewohner des Westteils von Mostar berichten für MM. Sie müssen allerdings aus Angst vor kroatischen Repressionen unter Pseudonymen schreiben. In den Westteil gelangt MM auch heute noch nur über geheime Kanäle, während das Blatt im Ostteil der Stadt am Zeitungskiosk erhältlich ist.

„Ich will nach Mostar zurück, für immer“

Immer wieder geht es in den Berichten über die Geschichte Mostars und das Leben der Mostarer Flüchtlinge im Exil. Dazwischen Interviews mit der „Agentur für Verschwundene“ oder Reportagen über Zwangsabschiebungen aus Deutschland – „Abšibungsdroung“ heißt Abschiebungsdrohung in ihrer Muttersprache. Vieles dreht sich um die Rückkehr nach Bosnien, um die Konflikte zwischen den Flüchtlingen und denen, die in Mostar ausgeharrt haben. Gegenseitige Vorwürfe, die einen hätten es im Ausland leicht gehabt oder die anderen bekämen nun die ersten Jobs, vergiften das Klima. „Zu wissen, daß man mit den Mördern von Freunden und Bekannten wieder zusammenleben soll, ist nicht einfach“, meint Ramić zurückhaltend. Ist er doch selbst „mit einem Bein schon auf dem Rückweg“.

In der jüngsten Ausgabe von MM hat er seine Leser auf eine Pause vorbereitet. Zwei Nummern will er noch machen, dann will er nach Bosnien zurück. „Richtig freiwillig“ – und nicht so wie der bayerische Innenminister Günther Beckstein „freiwillig“ als Umschreibung für angedrohten Zwang versteht. Ramić möchte so schnell wie möglich wieder in seiner Heimat arbeiten. Am liebsten in Mostar, am Westufer der Neretva. Das geht aber nicht. So ist Sarajevo sein Ziel, wo der Bruder seiner Ehefrau eine Wohnung besitzt. Dort will er als erstes ein Buch aus den gesammelten Briefen der Exilmostarer zusammenstellen.

Für immer will Ramić jedoch nicht in Sarajevo bleiben: „Mostar ist wunderschön. Auch wenn es zerstört ist. Wie eine verlassene Filmstadt, die auf Touristen wartet“, habe die Stadt auf ihn gewirkt in den ruhigen Momenten seines letzten Besuchs. Ramić aber „will nicht als Tourist zurückkehren, sondern für immer“.