Ein Adelsdorf, zweimal Wilhelm Koch

Eine mittelfränkische Gemeinde bemüht sich zwar um die lokale Aufarbeitung der Nazizeit, will aber dennoch eine nach dem damaligen NSDAP-Bürgermeister benannte Straße nicht umbenennen  ■ Aus Adelsdorf Bernd Siegler

„Guten Tag, wir stehen hier wegen der Umbenennung der Wilhelm-Koch-Straße.“ Margaret Hachmeiers Stimme klingt entschlossen. Nicht minder entschlossen gehen die Leute an ihr vorbei – schnurstracks in den Supermarkt. Manche aber zischen im Vorbeigehen der kleinen grauhaarigen Frau ein „Euch sollte man aufhängen“ oder „Scheiß Juden“ zu. Trotzdem steht die 55jährige am nächsten Wochenende wieder vor dem Supermarkt in Adelsdorf, Mittelfranken.

Hachmeier sammelt Unterschriften, um ein Bürgerbegehren anzuschieben. Unter dem Motto „Wer die Täter ehrt, verhöhnt die Opfer“ wollen sie und andere eine Abstimmung in der 7.000-Einwohner-Gemeinde zwischen Nürnberg und Würzburg darüber erzwingen, ob die Wilhelm-Koch-Straße künftig Hopfenstraße heißen soll. Schließlich war Koch der einstige Adelsdorfer NSDAP-Ortsgruppenleiter, SA-Rottenführer, NS- Bürgermeister, Schulleiter und Rassekundelehrer. „So einen Mann mit einer Straße zu ehren, das geht doch nicht“, meint Hachmeier.

Das geht doch, meinte der Gemeinderat vor vier Wochen. In geheimer Sitzung lehnte man mit knapper Mehrheit die Umbenennung der Straße ab. Das Wirken Kochs nach dem Krieg, sein Engagement für den Neubeginn und in zahlreichen Vereinen der Gemeinde hätten schwerer gewogen als sein Verhalten während der Naziherrschaft, faßt Adelsdorfs Bürgermeister Armin Goß die „sehr gewissenhafte Diskussion“ im Gemeinderat zusammen. CSU- Mann Goß, seit einem Jahr im Amt, findet es „sehr bedauerlich“, daß nun Frauen wie Margaret Hachmeier ein Bürgerbegehren anvisieren, statt den „demokratischen Beschluß“ zu akzeptieren. Nicht nur wegen der 25.000 Mark, die die Befragung wohl kosten würde, hat der EDV-Spezialist ein „ungutes Gefühl“, sondern weil „Gräben in der Bevölkerung aufgerissen“ würden. Und das, wo man doch „schon so weit gewesen war“.

So weit? Damit meint Goß die 875-Jahr-Feier des Orts im November letzten Jahres. Damals widmete sich die Gemeinde offensiv ihrer Vergangenheit und vor allem den Spuren jüdischen Lebens. Ein Drittel der Bevölkerung waren einst Juden, es gab eine Synagoge, ein eigenes Rabbinat, und zwei Kilometer entfernt im Wald liegt einer von Bayerns größten jüdischen Friedhöfen. Ein Arbeitskreis begann, das Schicksal der Adelsdorfer Juden in der NS-Zeit zu erforschen. Allen voran die freie Rundfunkjournalistin Christiane Kolbet. Die 34jährige durchforstete Archive und fahndete mit Erfolg nach Holocaust-Überlebenden aus Adelsdorf.

Mit Rosi Wahl, Shlomo und Baruch Ron und Bernhard Stühler kehrten am 7. November dann vier Nachkommen der ältesten jüdischen Familie aus Adelsdorf erstmals nach über 50 Jahren zurück. 1939 flohen sie als Jugendliche vor den Nazis, heute leben sie in den USA, Israel und Dänemark. Von den 60 jüdischen Bürgern, die 1933 noch in Adelsdorf wohnten, konnte die Hälfte fliehen, die anderen wurden in den Vernichtungslagern umgebracht. Der Vater der Geschwister Rosi, Baruch und Shlomo war das erste Opfer des Nationalsozialismus in Adelsdorf. Er wurde nach dem Pogrom vom 9. November 1938 nach Dachau gebracht und starb ein halbes Jahr später an den Folgen der Haft.

In einer vielbeachteten Rede bat Bürgermeister Goß seine Gäste und „alle ehemaligen jüdischen Bewohner Adelsdorfs um Verzeihung, auch für Verbrechen an Ihren Familien und am jüdischen Volk insgesamt, die durch nationalsozialistischen Terror begangen wurden“. In Schulen und auf Veranstaltungen erzählten die ehemaligen Adelsdorfer von ihrem Schicksal. Die Neugier und das Interesse waren groß. Man identifizierte sich gegenseitig auf vergilbten Klassenfotos, und die Ausstellung über das jüdische Leben im Ort hatte in sechs Wochen 1.600 Besucher.

„Ein voller Erfolg.“ Christiane Kolbet war zufrieden. „Die Gespräche und der Austausch waren hervorragend“, fand auch der Bürgermeister und freute sich, daß Adelsdorf positive Schlagzeilen einheimste.

Doch jetzt ist das positive Image in Gefahr: Und das alles wegen der Wilhelm-Koch-Straße, vor der die jüdischen Gäste aus Dänemark, Israel und den USA bei einem Spaziergang wie vom Donner gerührt stehengeblieben waren. An Koch erinnerten sie sich alle. Er war ihr Lehrer gewesen. „Im Rassekundeunterricht hat er mich immer als negatives Beispiel verwendet“, erzählte Baruch Ron. Sein Bruder Shlomo berichtete, daß Koch die ganze Schule durchs Dorf marschieren ließ. Alle, auch er, mußten dabei das Lied „Wenn das Judenblut am Messer spritzt, wird es noch einmal so gut“ singen.

„Der beliebteste Sport unserer Schulkameraden war, uns, die jüdischen Mitschüler, zu verprügeln“, erinnerte sich Shlomo. Koch hätte sie ermuntert. Rosi Wahl hat einmal auf der Flucht vor den Schlägern an Kochs Tür geklopft. „Du bist eine Jüdin, was erwartest du denn“, habe Koch ihr geantwortet und die Tür wieder verschlossen.

Solche Erzählungen ermunterten Margaret Hachmeier und Christiane Kolbet zu erneuter Recherche. Sie fanden heraus, daß Koch am 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat. Zwei Wochen später wurde er als NSDAP-Ortsgruppenleiter Bürgermeister. Im Mai 1937 mußte er sein Amt abgeben, weil ein Beamter laut Gemeindeordnung nicht gleichzeitig Bürgermeister sein durfte. Koch blieb aber Führer der örtlichen NSDAP. Im Juni 1933 schloß er sich der SA an und nahm regelmäßig an politischen Schulungen teil. „Die Lehren unserer Weltanschauung sind ihm ein Evangelium“, hieß es in seiner Beurteilung.

Als der Krieg ausbrach, war Koch 51 Jahre; für die Front zu alt und als Schulleiter in der Heimat unabkömmlich. Im Gemeindearchiv gibt es keine Aufzeichnungen über seine direkte Beteiligung an der Pogromnacht im November 1938 und später an den Deportationen der Adelsdorfer Juden. Alle Unterlagen aus dieser Zeit sind vernichtet. Doch für Hachmeier und Kolbet ist Koch, der damalige Adelsdorfer Parteichef und Rottenführer der SA, für das Geschehene verantwortlich.

Nach Kriegsende verbrachte Koch drei Jahre in einem amerikanischen Internierungslager für NS- Täter im unterfränkischen Hammelburg. Zwei Adelsdorfer Juden, die im April 1945 auf Seiten der US-Army in die Gemeinde einmarschierten, hatten für die Verhaftung von Koch gesorgt. 1948 kehrte Koch als kranker Mann nach Hause zurück. Er unterrichtete nur ein paar Monate in der Schule, widmete sich fortan dem Gesangsverein und machte sich für den Bau von billigen Wohnhäusern stark. In dieser Siedlung liegt die Wilhelm-Koch-Straße. Im ersten Spruchkammerverfahren wurde Koch als „minderbelastet“, in der Revision als „Mitläufer“ eingestuft. 1953 starb er, zwei Jahre später wurde die Straße nach ihm benannt.

„Damals kannte man ihn und konnte ihn besser beurteilen“, kommentiert Bürgermeister Goß das einstimmige Votum des Gemeinderats von 1955. Heute gebe es jedoch zwei Gruppen in der Gemeinde: „Die einen kennen Koch noch persönlich oder haben Eltern und Großeltern, die den ehemaligen Bürgermeister kennen. Für die ist Koch ein Mann, der in vielen Vereinen tätig war und sich für arme Leute engagiert hat. Die anderen, das sind die Zugezogenen, für die hat sich Koch durch sein Verhalten in der NS-Zeit disqualifiziert.“

Da Margaret Hachmeier erst seit fünf Jahren in Adelsdorf lebt, gehört auch sie zu den „Zugezogenen“. Bei ihr war Rosi Wahl im letzten November zu Gast. Und sie sah mit an, wie die aus Denver angereiste Jüdin noch immer unter ihren Erfahrungen aus der Nazizeit in Adelsdorf litt: „Ihr ist der Besuch sehr schwer gefallen, sie hat viel geweint.“ Und Wilhelm Koch sei nicht nur für Rosi Wahl der Adelsdorfer Nazi gewesen. Mehrfach habe sie verlangt, daß der Straßenname verschwinden müsse. Margaret Hachmeier sieht es daher als ihre „moralische Pflicht“, sich für die Umbenennung der Straße einzusetzen.

Als der Gemeinderat diese ablehnte, empfand sie das als „herben Rückschlag“. Baruch Ron indes schrieb aus Israel, daß ihn das Votum „wenig überrascht“ habe. „Sie tun noch heute so, als hätten sie nichts gesehen und nichts gewußt“, schrieb er den Adelsdorfern ins Stammbuch. Bei seinem Besuch habe es ihn trotz aller Herzlichkeit bedrückt, daß keiner seiner ehemaligen Mitschüler auch nur ein Wort des Bedauerns gefunden habe. Während zugleich der örtliche Landrat beim Festakt im November die „Gewißheit“ beschwor, „daß wir Deutschen uns zur historischen Last und Verantwortung bekennen“.

„Wir wollen keinen Krieg in der Gemeinde“, betont Margaret Hachmeier, doch nach dem Votum des Gemeinderats sei als Ausweg nurmehr ein Bürgerbegehren geblieben. Sie zögerte keine Sekunde, den Antrag mit ihrem Namen zu unterzeichen. Doch seit dem ersten Samstag vor dem Supermarkt und teilweise harten Reaktion alteingesessener Adelsdorfer kann sie nicht mehr ruhig schlafen. „Viele grüßen mich nicht mehr, manche beschimpfen mich. Ich dachte, das stehe ich nicht durch, jetzt geht es wieder.“ Zustimmende Leserbriefe im Nordbayerischen Kurier und im Fränkischen Tag haben ihr Mut gemacht.

Einen Mut, den ihr einige gern austreiben würden. Alfons Trapp zum Beispiel, von 1948 bis 1978 Bürgermeister in Adelsdorf. Er hat 1955 für die Benennung der Straße nach Koch gestimmt. „Koch war ein anständiger Mann und wirkte in vielen Vereinen“, betont der 79jährige Sozialdemokrat, der in Kochs Entnazifizierungsverfahren als Hauptentlastungszeuge ausgesagt hat. Als Lehrer sei Wilhelm Koch „völlig normal“ gewesen. „Da hat jeder seinen Batsch (Hieb, Anm. d. Red.) gekriegt, ob er Jude war oder nicht“, erinnert sich Trapp. Man sollte „auf alle Fälle den Straßennamen beibehalten“.

Das findet Elsa Hörrlein auch. Die alte Adelsdorferin jätet Unkraut in ihrem Vorgarten. Auf Wilhelm Koch und den Straßenstreit angesprochen, bricht es geradezu aus ihr heraus: „Das war ein Guter. Er hat nie einen Schüler geschlagen, wie hatten nie Rassekundeunterricht.“ Um ihre Worte zu unterstreichen, stemmt sie ihre Arme in die Hüften: „Koch war immer für die kleinen Leute. Nach so vielen Jahren muß doch auch mal Schluß sein mit der Vergangenheit“, meint sie und erzählt freimütig, wie sie sich als 16jährige freiwillig zur Wehrmacht und später zur Flak gemeldet hatte. Über den Zaun hinweg pflichtet ihr eine Nachbarin bei: „Die sollte man doch bei Nacht und Nebel verhauen, damit sie wissen, was sie bei uns anrichten.“

Gemeint sind Christiane Kolbet und Margaret Hachmeier. Die haben nun knapp die Hälfte der 500 benötigten Unterschriften beisammen. Und jeden zu fragen, trauen sie sich nicht. Als an diesem Samstag zwei junge Männer mit Stoppelhaaren auf den Supermarkt zusteuern, will Margaret Hachmeier schon mit der Unterschriftenliste zu ihnen gehen. Doch dann hält sie ein. „Nee, die frage ich nicht. Wer weiß, was die in den Taschen haben.“