Riecht nicht mehr funny

Schadstoff-, lärm- und aufregungsarm tuckert der Moers-Motor im 26. Jahr des Jazzfestivals vor sich hin. Langhaarige stehen an den Rändern und behelfen sich mit Daft Punk  ■ Von Andreas Becker

Diesmal kam man dem Moers- Festival-Besucher zunächst einmal knallhart soziologisch. In einem dem Programmheft beigelegten vierseitigen Fragebogen hieß es: „Wenn Sie das Wort Jazz hören, woran denken Sie dann? Protest, elitär, konservativ, ehrlich, sozial?“ Mehrfachnennungen waren auch bei der Frage möglich, welche der nachfolgenden Probleme einen gerade plagen: „Mangelndes Selbstvertrauen, sexuelle Probleme, Nervosität?“ Insgesamt 12 Probleme standen dem Besucher zur freien Auswahl bei der Aktualisierung der Studie „zur Sozialpsychologie der kulturellen Minderheit des Jazzpublikums“ von 1976.

3.100 Dauerkarten hat man verkauft, was die Veranstalter schon stolz macht. Etwa 50.000 Besucher, niemand weiß die genaue Zahl, tummelten sich auch diesmal wieder zu Pfingsten im Stadtpark, wieder wird die niederrheinische Kleinstadt von Heerscharen verwilderter, ungewaschener junger Menschen belagert, die kommen, weil die andern auch da sind. Und Schmutz hinterlassen die. Obwohl sogar die tätowierten Leder-Motorradfreaks aus Krefeld, die ihren Spritkonsum mit illegalem Tequilaausschank an einer der Hauptfußgängeradern des Geländes finanzieren, brav Schnapsgläser spülen. Trinktechnisch günstig steht ihr Tapeziertisch zwischen Festivalzelt und der häßlichen Eissporthalle, in der die „African Dance Night“ stattfindet, mit dem brasilianischen, gern sich selbst feiernden Superstarsänger Carlinhos Brown. Mit seinen 18 Mitspielern aus Bahia gab der 32jährige eine Party, wie erfunden für achttausend tanzwütige, dem Ausgeflipptheitsgrad nach zu urteilen verbeamtete GesamtschullehrerInnen. Als Songwriter für andere plazierte Brown schon 26 Nummer-1- Hits in den Brasil-Charts, scheut aber auch vor der Zusammenarbeit mit Sepultura nicht zurück.

Und wenn das Festivalprogramm kaum noch einen provoziert – schon gar nicht altgediente Jazzhasen wie den Moerser Bürgermeister –, Experimente wie Neubauten-Auftritte oder wie Heiner Goebbels, der 1984 einmütige Gigs von Popstars wie Diedrich Diederichsen oder Der Tödlichen Doris organisierte, sind rar geworden. Wenn jemand wie Hayden Chisholm & The Inflictors Drum& Bass-Rudimente verwurstet, wird das von den Veranstaltern aufrichtig als Innovation gelobt.

In diesem 26. Moers-Jahr sprechen Mitveranstalter WDR und künstlerischer Leiter Burkhard Hennen gern von 25 plus 1, als habe das Jubiläum im letzten Jahr eine Zäsur dargestellt. Junge Musiker wolle man vorstellen, ihnen eine Chance geben. Diese Jungen aber sind teils weniger wild als die Alten. Das mag einerseits Ausdruck eines allgemeinen 90er-Syndroms sein, andererseits aber auch Faulheit der Veranstalter und geringe Risikobereitschaft. Alle Acts ließen sich langweiligerweise unter dem Schlagwort Jazz subsumieren. Das ist nicht gerade die spannendste Musikrichtung zur Zeit und vor allem nicht mehr Wegbereiter der Avantgarde – der Moers-Motor der ersten Jahre.

Draußen am Kaffeestand vorm Zelt jedenfalls hören Langhaarige Daft Punk aus dem Recorder, und auch ein niederrheinischer Amateurpoet, der mit uns am VW-Bus einen Joint raucht, singt plötzlich Daft Punk. Solcherlei Geschmacksnerven der 50.000 im Schlamm Campierenden aber werden vom Festival konsequent ignoriert. Neuartige Dance-Geschichten wie Whirlpool Prod. oder Jimi Tenor ließen sich sicherlich gerade im offenen Moers mit Erfolg präsentieren. Nur würde das den Mut erfordern, alte, zauselige Jazzbärte zu vergraulen, die schon aus dem Zelt watscheln, wenn ziemlich süße Kubanerinnen von Son Damas de Cuba die Frechheit besitzen, den Nachmittag mit Unterhaltungssalsa der Dünnbrettsorte zu vertändeln, anstatt mit ernsthafter Improvisation. Hüftschwünge statt krächzender, nie enden wollender Saxophonsoli, das darf nicht sein. Denn die (Hüften!) kann man im Radio ja gar nicht sehen. Und der WDR, dessen Jazzdoktor Ulrich Kurth gemeinsam mit Hennen das Programm zusammenstellt, sendet immerhin allein 7,5 Stunden live aus Moers. Und das möglichst ohne Risiko. Hier riecht der Jazz nicht mehr funny. Und wenn es morgens im Wetterkanal heißt, abends ist Gewitter über Moers, läßt man die Heißluftballons am Boden. Aus eben diesen nämlich sollte ein zumindest optisches Highlight übertragen werden, das tatsächlich alle Besucher erreicht hätte. In jedem Ballon sollte ein Musiker spielen, über Satellit und Radio verbunden mit den andern fliegenden Orchestermitgliedern. Abgesagt. So fand auch diese Revolution eben im Saale statt.

Aus Protest gegen die Spaßkiller wäre man gern mit einem hinter unserem Bulli (unser Fahrer litt übrigens unter Bullimie – eine Urangst um den Erhalt sauberen Geschirrs im VW-Bus) parkenden jungen, aufstrebenden Internet- Freak, der für die WAZ bunte WWW-Seiten macht, abends in eine stillgelegte Zeche in Essen gefahren, zu einer Tanzveranstaltung mit Scanner und diversen DJs.

Das Moers-Festival schmückt sich mit den Zehntausenden alten und jungen Kids auf den Wiesen im Stadtpark. Aber die Idee, Musik für sie anzubieten, hat man im Grunde aufgegeben. Sicher, einige finden immer wieder den Weg ins Jazz-Zelt zur Verjüngung der „Minderheit“, die Masse aber zieht es vor, an einer alljährlich wunderbar anarchischen Freiluftparty teilzunehmen. Pärchen vögeln öffentlich am See, Techno knallt bis in den Mittag aus improvisierten Diskozelten mit mitgebrachten Stromaggregaten, und die Eltern schauen Pfingstnachmittag vorbei, ob die Kinder auch wirklich Drogen nehmen. Dieser „Free Mind von Moers“ (Hennen) ist ansteckend. Nirgendwo flirtet es sich so wunderbar leicht wie hinterm Rhein. Dieser Spirit wurde durch eine von der Stadt erhobene Campinggebühr von 50 Mark und Autoverbot, durchgesetzt von „Storm-Security“, eher noch verstärkt.

Eigentlich ist dieses Festival längst ein originäres, in Deutschland einmaliges, in, öhm, Woodstock-Tradition stehendes Pop- Event. Nur die Musik dazu kommt immer seltener von Bühnen, sondern aus Kofferradios und von lausigen Bongospielern.