Mehr Morde als zur Zeit der Militärdiktatur

■ Menschenrechtsorganisation prangert die Brutalität von Brasiliens Polizei an

Rio de Janeiro/Washington (IPS/AFP) – Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch/Americas“ hat von den brasilianischen Behörden ein schärferes Vorgehen gegen die weitverbreitete Brutalität von Polizisten in den Städten gefordert. In der vergangenen Woche hatte ein im Fernsehen gezeigtes Amateurvideo im ganzen Land Empörung hervorgerufen. Darin waren Angehörige der Militärpolizei von São Paulo zu sehen, die einen Bewohner eines Elendsviertels schwer mißhandelten und töteten. Derartige Ausschreitungen von Militärpolizisten seien inzwischen in allen Städten Brasiliens an der Tagesordnung, betont ein am Dienstag in Washington veröffentlichter Report der Menschenrechtsorganisation.

Der Skandal um das Video hat bereits dazu geführt, daß neun Polizisten verhaftet und zwei ihrer Vorgesetzten entlassen wurden. Der Senat in Brasilia hat außerdem einem Gesetz zugestimmt, das Folter erstmals als Straftatbestand anerkennt. Dies allein reiche aber noch nicht aus, mahnte der Direktor von Human Rights Watch, José Vivanco. Eingedämmt werden könne die Brutalität der Polizei erst durch die Einführung strengerer Gesetze, deren Einhaltung landesweit überwacht werde. Die Menschenrechtler fordern, Fälle von gravierenden Menschenrechtsverstößen seitens der regionalen Polizei künftig vor Bundesgerichten zu verhandeln. Militärpolizisten sollten zudem nicht mehr vor ein Tribunal der Streitkräfte, sondern vor ein Zivilgericht gestellt werden.

Am Montag enthüllte der Sender Red Globo weitere Übergriffe: Ein weiteres heimlich aufgenommenes Video vom 23. März dieses Jahres zeigt, wie Militärpolizisten in einem Armenviertel von Rio den Janeiro eine Gruppe Jugendlicher mit Schlägen und Fußtritten bis zur Bewußtlosigkeit malträtieren. Die führenden Tageszeitungen in Rio und São Paulo reagierten entsetzt. „Die Polizei tötet mehr als die Diktatur“, titelte die in Rio erscheinende Tageszeitung Jornal do Brasil. Die Zeitung nannte schockierende Zahlen, die sie einer Universitätsstudie entnommen hat: Demnach brachte die Militärpolizei von São Paulo in nur einem Jahr 1.470 Menschen um, „fast viermal mehr als die Militärdiktatur in 15 Jahren“. In Rio wurden laut Berichten der Zeitung O Globo zwischen 1993 und 1996 mehr als 1.400 Menschen von der Polizei umgebracht. Im Vergleich dazu scheine eine Stadt wie New York, lange Zeit als eine der gefährlichsten der Welt in Verruf, fast beschaulich.

Human Rights Watch hat seit den 80er Jahren bereits vier Berichte über das gewaltsame Vorgehen der Behörden veröffentlicht. Der aktuelle Report listet rund 40 Fälle von Exekutionen, lebensgefährlichen Schußverletzungen und Verschleppungen auf. Die Polizei töte oft ohne ersichtlichen Grund. Die Täter beseitigten die Spuren und fertigten falsche Berichte an, in denen von „Schießereien mit gefährlichen kriminellen Elementen“ die Rede sei.

In mehreren Bundesstaaten hätten die Behörden zudem Regelungen in Kraft gesetzt, die Menschenrechtsverletzungen Vorschub leisteten. In Rio de Janeiro beispielsweise würden Polizisten befördert, die bei ihrer Arbeit „Tapferkeit“ bewiesen. Im Klartext bedeute dies, daß sie mutmaßliche Verbrecher ohne Rücksicht getötet hätten.