Burgschauspieler

Ein Nachmittag auf dem Land  ■ Von Gabriele Goettle

Mittelalterliches Spektakel wird am Sonnabend und Sonntag jeweils ab 10 Uhr auf der Burg“ dargeboten werden, so die Chemnitzer Neue Presse, und zwar von dreißig Mitgliedern einer Ritterschaft, die sich „in schweren Kettenhemden und kompletten Rüstungen“ zu ritterlichen Kampfspielen treffen werden. In ihrem Gefolge sollen sich, laut Meldung, auch „Burgfräulein in ihren edlen Roben und verschiedene Gewerke wie Bäcker, Münzpräger und Gerber“, sowie Gaukler, Jongleure, Musikanten und der „einzige Minnesänger Deutschlands“ befinden.

Die Burg Schönfels überragt den gleichnamigen Ort gerade so viel, daß man sich vormaliges Herunterherrschen immer noch gut vorstellen kann. Das Dorf selbst ist heute weniger von der Burg geprägt als durch den Anschluß ans Westniveau. Man kommt an und sieht, daß man es bereits geahnt hat. Der Ort ähnelt zum Verwechseln zahllosen anderen in Thüringen und Mittelsachsen. Hinter den Zäunen der Firmen- und Privatgrundstücke eilen bellend Wachhunde hin und her, wie einst an der innerdeutschen Grenze. Die schutzbedürften Eigenheime sind mit frischem Anstrich, neuen Dächern, kupfernen Regenrinnen und Panoramafenstern nachgerüstet worden, hier und da sogar mit getönten Butzenscheiben im Entree. In den Gärten neben den Imbißbuden stehen baldachinartige Pavillons aus reißfester Folie, dazu passend jene stapelbaren weißen Gartenplastiksessel die – Inbegriff einer wahrhaft siegreichen Internationale – in nur wenigen Jahren den gesamten Globus erobert haben. Wo sind die massiv verschweißten Hollywoodschaukeln, wo die wachstuchbedeckten Tische und hölzernen Bänke? Für all das gibt es in den neuen Bundesländern kostenlose Sperrmüllabfuhr, damit der Neukonsument seine Erinnerungsstücke aus VEB- Produktion gegen Zeitgemäßes ersetze. Kurz, vieles ist geschafft und angeschafft, auch in der begründeten Hoffnung, daß der Betrachter von den Attributen auf die Eigenschaften des Besitzers schließen möge.

An Betrachtern fehlt es nicht an diesem schönen Sonntag nachmittag. Die Parkplätze zwischen Burg- und Zwickauer Straße sind überfüllt, Familien, die sich eine kleine Erholung im Feudalismus gönnen möchten, streben zur Burg hinauf und stauen sich vor dem Eingangstor. Ritterlich gekleidete Männer helfen beim Kassieren. Die Eintrittspreise werden klaglos von den Untertanen entrichtet. Acht Mark zahlen Erwachsene, Kinder die Hälfte, Arbeitslose, Rentner, Schüler und Studenten dürfen für sechs Mark eintreten. Von einer Frau mit Bürgerinnenhaube und braunem, bodenlangem Kleid erhält man neben der Eintrittskarte auch noch eine herzliche Einladung zur Besichtigung aller Ausstellungsräume. Sie ist die Museumsdirektorin.

Im Innenhof, der weitläufig und leicht ansteigend die Burg umgibt, erklingt Gehämmer, Hundegebell und Musik. Der Duft gebratenen Fleisches schwebt in der Luft, und das Publikum flaniert mit großen, ehrlichen Gesichtern zwischen den strohgedeckten Hütten hin und her, bereit, sich überwältigen zu lassen – von Eindrücken und von Rittern. In den Hütten sitzen langhaarige Bartträger im Schneidersitz auf ihren Strohschütten und fertigen Ledernes an, Gürtel, Armbänder, ein Wams oder Schnabelschuhe. In einer anderen Hütte türmen sich geflochtene Körbe aus grünen Weidenruten, die angeblich grün bleiben. Nebenan lockt ein ununterbrochenes Bimmeln. Glöckchen und Glocken, angeblich selbstgeschmiedet, werden bearbeitet, mit Klöppeln versehen und aufgehängt. Auch einen stark umlagerten Waffenschmied gibt es und eine Schneiderhütte, in der renaissanceartig aussehende Kleidungsstücke und Kopfbedeckungen gefertigt und verkauft werden. Wer all diese enganliegenden Wämslein, Mieder und gerafften Krägelchen kaufen soll, scheint sich der Betrachter in legerer Freizeitkleidung nicht zu fragen. Der schmächtige blonde Mann streckt die Hand aus, berührt den glänzenden Stoff eines roten Gewandes und geht weiter.

Weniger besucht ist die andere Seite des Innenhofes. Ein paar Familien mit kleinen Kindern haben in den aufsteigenden Sitzreihen Zuflucht gefunden vor dem Gedränge bei den Hütten. Sie werden von einem Hofnarren in Atem gehalten, der mit seiner kunstvoll gestalteten Schellenkappe und stark gepolstertem Buckel auf der Burgmauer sitzt, wo er durch mäßige Bewegungen und sinnenden Gesichtsausdruck verwirrt. Mehr noch als die Erwachsenen spüren die Kinder etwas von der Verwandlung des Verkleideten. Sie beobachten ihn skeptisch, mit jenem unverbindlichen und unbestechlichen Blick, wie nur Kinder ihn haben. Unten, vor den ehemaligen Ställen, ist ein Rechteck im Gras mit Steinplatten belegt, das ist die Bühne für Gaukler und Musikanten. Seltsam zipfelige schwarze Fahnen sind dort aufgehängt, aber weniger in der Art, wie man Fahnen gewöhnlich aufhängt, sondern mehr wie Wäschestücke, die zum Trocknen über die Leine geworfen wurden. Davor ein Aufbau von einerseits afrikanischen Trommeln und andererseits gewöhnlichem, etwas älterem Schlagzeug. Um dem Ganzen etwas mehr mittelalterliches Aussehen zu verleihen, hat man zu einigen Bambusstöcken gegriffen, sie zeltstangenartig zusammengebunden und daran diverse Musikinstrumente aufgehängt, wie Tamburin, Laute, Flöte, Ratschen, Schellen. „Freß-, Sauf- und Liebeslieder“ sollen hier zu Gehör gebracht werden. Der angekündigte „einzige Minnesänger Deutschlands“ ist nicht gekommen. Ein kurzgeschorener, faunartig wirkender junger Mann in hölzernen Schuhen betritt die Bühne und ordnet die Pfeifen seiner Dudelsackflöte. Dann bläst er den ledernen Sack auf, der, eingeklemmt unter dem linken Arm, bald wieder entlüftet wird durch die rhythmisch freigegebenen Löcher der Flöte. Die Töne sind, offenbar durch den kraftvollen Druck auf den Sack, sehr viel ungehöriger und dringlicher als die einer mundgespielten Flöte. Der Geschorene steht entspannt da, wippt mit dem hölzernen Schuh und spielt eine davonhüpfende Melodie voll heftiger Ausbrüche und melancholischer Halbtöne. Ein Langhaariger in Rupfen begleitet nun mit einer Bauernleier das Spiel, ein anderer mit Trommel und Schellen fällt ein, sie spielen und spielen, und niemand singt dazu das Lied vom wohlgezognen Knecht: „... der sach einen schönen dantz auf preyter Awe, von mannen und von frawen, den dante, den wollt er schawen. Do sprach der wohlgezogne Knecht, Gott grüß euch, Jungfraw alle. Do sprach die maid vom rosental, das dir ein or abfalle, mit Nase und mit allem.“

Fünfhundert Jahre fliegen dahin, Mörtel fällt aus den Fugen der Burgmauer, ein Samuraikrieger, mit rund um einen Haartschüppel geschorenem Schädel, gekalktem Gesicht und steifem Kimono, absorbiert alle Geräusche. Die Hand auf das Harakirischwert am Gürtel gestützt, schreitet er mit wiegendem Gang dahin. Die Menge der Schaulustigen weicht schweigend aus. Irgend etwas Alarmierendes geht von ihm aus, die Leute, obgleich durchs Umschalten beim Fernsehen von Spielfilm zu Spielfilm abgebrüht, spüren dennoch, daß der hier irgendwie nicht hergehört, daß es sich womöglich um einen Wahnsinnigen handelt, der jeden Moment sein Schwert ziehen und mit einem Urlaut Amok laufen oder Selbstmord begehen könnte. Aber er verschwindet auf Nimmerwiedersehen in Richtung Bratwurstgrill. Und wie zum Beweis dafür, daß alles seine Ordnung hat, tauchen mehr und mehr Kostümierte auf. Man sieht enganliegende Trikothosen, Lederhosen mit stark betontem Latz, gebauschte, gestreifte, geschlitzte Ärmel, verschleierte und dekolletierte Kleider, schön geformte Oberarme bei beiden Geschlechtern. Die Familienväter heften ihren Blick in jeden vorbeikommenden Ausschnitt, kaufen fürs Kind ein geschmiedetes Glöckchen, für die Frau ein Armband und stehen schließlich voller Demut in der Wurstschlange, bis ihnen die als Ritter verkleideten Burschen für eine „Thüringer Roster“ und einen Humpen Bier fast zwanzig Mark abnehmen, inklusive Pfand für den Humpen.

Nun werden Ritterspiele angesagt. Die Wurstschlange löst sich auf und verteilt sich mit den Wurstessenden in den Sitzreihen. Auf der Mauer hockt immer noch der Narr in einer grotesken Pose und wird geflissentlich ignoriert. Unten tritt ein knäbisches Mädchen in ärmellosem Leibchen und enganliegender Hose vors Publikum. Sie wirft geschmeidig Keulen in die Luft, gerät aber sofort aus dem Rhythmus. Ihre ausgestreckte Hand verfehlt die herabsausende Keule knapp, doch schnelles Bücken, Emporwerfen und Fangen retten den Auftritt nicht mehr, immer wieder greift sie ins Leere. Das Publikum verfolgt mit lüsternem Schweigen das menschlich ergreifende Schauspiel. Kein schadenfrohes Gelächter gewährt der Anfängerin einen vorzeitigen Abbruch ihrer Darbietung. Man möchte sie bis zum bitteren Ende betrachten. Der Applaus ist so heftig wie die Erregung, die herrscht. Vielleicht aber hat man ihr, die alles das ausgehalten hat, dafür dann doch verziehen? Die Knäbische jedenfalls verneigt sich mit dem Keulenbündel in der Hand geschmeidig zum Abschied und springt davon.

Zwei Männer betreten die Bühne in Kettenhemd, Helm und Rüstungsteilen, erheben ihre Schwerter und lassen sie aufeinander niederfahren, jeder den Schlag des anderen im letzten Moment mit dem Schild abfangend. Maskulines Ächzen und Keuchen untermalen das surrende Klirren des Stahls und das Krachen der Schilder. Daß diese dreschflegelhafte Tätigkeit stark ermüdet, leuchtet jedem ein. Deshalb werden die kurz aufeinanderfolgenden Pausen vom Publikum klaglos hingenommen. Während die Ritter ganze Humpen voll Bier in aller Eile hinunterstürzen, spielen die Musikanten auf, und schon geht es weiter, mit wechselnden Waffen, mal Streitaxt, mal Morgenstern. Ein versehentliches Streifen der Schulter mit dem hochgerissenen Schild entzündet in den angetrunkenen Rittern eine solche Berserkerwut, daß der Zweikampf spornstreichs in eine echte Prügelei übergeht. Mit wüsten Beschimpfungen und hackenden Schlägen gehen sie aufeinander los, doch bevor Schild und Schädel zu Bruch gehen, machen Erschöpfung und Musikanten der Sache ein Ende. Taumelnd stoßen die Recken ihre Hack- und Schneidewerkzeuge in einen Holzklotz, legen Helme, Brustpanzer und Kettenhemden ab und lassen sich etwas abseits ins Gras fallen, wo sie sogleich einschlafen.

Auf der Bühne haben nun wieder die Musikanten Platz genommen und mit dem Spiel begonnen. Das Publikum bildet sich ohne jede Eile zur Wurstschlange um, die kleineren Buben nähern sich, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, jenem Hackklotz, in dem die Waffen stecken. Der momentane Berufswunsch ist ihnen deutlich anzusehen. Sie umfassen den Griff des langen Schwertes, prüfen mit dem kleinen Zeigefinger die Spitzen des Morgensterns und heben den Ärmel des Kettenhemdes ein wenig an. Die Objekte jedoch, eben noch von Leben erfüllt, von wutschnaubendem Leben sogar, scheinen vor den Bubenaugen abzukühlen, ihre Magie zu verlieren, die Älteren wenden sich ab und betrachten einen Moment lang den Mann mit der Sackflöte. Der preßt zwischen Hüfte und Ellbogen mit leicht kreisenden Beckenbewegungen den schwarzen Ball zusammen und spielt mit finsterer Miene die Flöte. Aufgestört durch die tollkühne Melodie, erheben sich alle Tauben vom Dach der Burg und flattern laut über den Hof. Einer örtlichen Sage nach sollen Tauben der Burg Schönfels, durch verräterisches Herumkreisen und Platznehmen auf versteckt liegenden Weilern und Burgen, die Zerstörung des ganzen Landstriches im Dreißigjährigen Krieg verschuldet haben.

Die Ritter sind mittlerweile wieder erwacht und sitzen unbeachtet und mit frischem Bier auf der abschüssigen Wiese. Der eine, ein grobknochiger Mensch mit behaarten Fäusten, sieht, aus der Nähe betrachtet, mehr einem Sozialfall als einem Ritter ähnlich. Er ist rechtschaffen betrunken und hat einen aggressiven, zum Glück kleinen Hund, der ständig nach den Ohren unseres Hundes schnappt. Der andere Mann, halb Ritter, halb ein Landsknecht, hat einen irritierenden Silberblick und brutal zurückgebissene Nägel: Beide Männer wirken wie wild wuchernde Menschen, die keinerlei formendes Berufsleben mehr haben, kein Maß und kein Ziel. Sie denken lange nach, bevor sie Antwort geben, so als müßten sie sich mühsam erinnern an eine eigentliche Identität. Der Betrunkene knirscht mit den Zähnen und versetzt seinem Hund einen Tritt. Der mit dem Silberblick erzählt: „Gegründet hat sich die Ritterschaft – oder Gruppe, will ich mal sagen – damals nach der Wende, in Erfurt. Das war aus reiner Freude, damals, die Leute waren ja noch wie wild auf die neuen Freiheiten. Heute, wo die meisten von uns normalerweise ganz gewöhnliche Arbeitslose sind, hilft uns dieses Herumziehen von Engagement zur Engagement, daß wir uns oft grade so über Wasser halten können. Wir haben ja alle früher mal was anderes gemacht, bei uns gibt's alles, Traktoristen, ehemalige, aber auch viele gelernte Handwerker, Schmiede, Bäcker, Schneiderinnen und Schneider, auch Profimusiker und Leute, die sich selbst was beigebracht haben, ja, und dann solche fürs Grobe, wie uns.“ Er lacht und trinkt mit geschlossenen Augen sein Bier aus. Wams, Beinkleid und Schuhwerk der beiden ist, aus der Nähe betrachtet, mit großer Sorgfalt angefertigt. „Wir sind die Ritter!“ lallt der Trunkene, doch der mit dem Silberblick winkt ab und sagt: „Wir stehn ganz unten, ganz unten! Egal, jedenfalls kommen die Besucher zu unserem Auftritt immer, trotzdem kriegen wir nicht mehr als alle anderen. Wir sind fünfundzwanzig Leute derzeit. 4.000 Mark ist die Gage für die ganze Truppe, das ist nicht viel. Oft wird nicht mal das gezahlt, wird überhaupt nicht gezahlt, das hatten wir auch schon, deshalb verlangen wir jetzt immer 8.000 Mark Kaution, seitdem geht's besser. Aber immer dieser Kampf ums Geld, um dies und das, ehrlich gesagt, früher war's in der Beziehung besser... Manchmal hab ich es satt, dieses Leben als Ritter und Säufer!“

Die Dämmerung bricht herein, mit jenem letzten gelblichen Abendlicht, das allem eine gestochen scharfe Kontur und Klarheit verleiht. Über dem Bratwurstgrill steigt der weiße Rauch kerzengerade in den Himmel. Ununterbrochenes Trommeln von der Bühne her untermalt die Bewegungen und das Stimmengewirr der Herumspazierenden. Ganz unmerklich erst und dann immer deutlicher entgleist die höfische und bäuerliche Freß- und Saufmusik der Deutschen aus dem 15./16. Jahrhundert, wird erst afrikanisch und dann indisch-orientalisch. Auf der Bühne stehen zwei Langhaarige, eben noch Spielleute, nun vollgekiffte sächsische Freaks. Den Trommelnden begleitet eine Art Flöte, sie improvisieren miteinander in verhaltener Lautstärke. Die fremden Töne schweben davon. Nebenan, unten, im vergitterten Zwinger, hausen zwei fast erwachsene Braunbären. Pelzig, einsam, voll sinnloser Kraft, hocken sie nebeneinander auf ihren Tatzen, lauschen und warten. Es ist, als wären sie zuallererst dagewesen, als hätte man Zwinger und Burg um sie herum gebaut.