Gegenwelten der Zivilisation

Die Plattenbau-Ghettos an den Rändern der Metropolen sind städtebauliche Sozialfälle: monofunktional, ungeliebt und verwahrlost  ■ Von Rolf Lautenschläger

Sie sind die Monster des modernen Städtebaus. Nächtliche Runden durch die Betongewitter gleichen Höllentrips. Und ihre Bewohner hat man in hochsicherheitstraktähnlichen Zellen einquartiert. Das Stigma ist bekannt: Die Plattenbau-Ghettos an den Peripherien der großen Kapitalen, euphemistisch auch Vorstädte genannt, bilden – zumindest in Mittel- und Westeuropa – städtbauliche Sozialfälle: industriell hochgezogen, schnell wie für den Augenblick gebaut, monofunktional, identitätslos, ohne Infrastruktur und architektonische Schwerpunkte, ungeliebt, verwahrlost und von Bewohnern bevölkert, die dem Begriff des Hooligans oder Outlaws näher sind als dem des Stadtbürgers. Die großen Schlafstädte, sagte einmal der französische Soziologe Pierre Bourdieu, „das sind die Gegenwelten“, die Feindbilder.

Für Gegenwelten gelten bekanntlich andere Gesetze. Als Norbert Kranenburg noch vor ein paar Jahren in einer WDR-Sendung den baulichen und sozialen Zustand der Siedlung „Metastadt“ am Rande des Ruhrgebiets beschrieb, mag sein Kommentar allen Kritikern der sogenannten Wohnmaschinen, Mietskasernen und tristen Großsiedlungen wie Musik in den Ohren geklungen haben. Das einst als „architektonisches Meisterwerk gepriesene Ensemble“, kritisierte Kranenburg, „gleicht einer Tropfsteinhöhle. Die Wohnungen sind feucht, an den Wänden bilden sich Schimmel und Pilze. Viele Bewohner haben daraus die Konsequenzen gezogen. Die Wohnungen stehen leer. Den Mietern folgten die Geschäftsleute, die nichts mehr verdienen konnten.“

Als die Metastadt-Bewohner ihre Räume nur noch mit Gummistiefeln und Schutzhelmen betreten konnten, keine Fahrstühle mehr fuhren, weil Vandalen sie zugrunde gerichtet hatten, entschloß sich der Verwaltungsrat zum Abriß der Wohnsilos.

Die Entsorgung einer ganzen Siedlung ist kein Einzelfall, die „Lösung“ durch Verdrängung hat Methode. Im US-amerikanischen St. Louis sprengte der Stadtrat Betongewitter in der Größe einer halben Kleinstadt: 3.000 Wohnungen, Geschäfte, Büros und Parkdecks stürzten zusammen. Im englischen Newcastle-upon-Tyne ließ die Stadtverwaltung die Noble Street Flats abreißen, beinhalteten doch die zugigen „Schlafkästen“ für sie zuviel sozialen Sprengstoff. Auch im holländischen Leeuwarden flogen die Plattenbauten aus den siebziger Jahren in die Luft, weil angeblich kein Sanierungs- und Städtebaukonzept greifen wollte. Der Abriß der hauptsächlich von Menschen aus den einstigen Kolonien bewohnten Amsterdamer Siedlung Bijlmermeer mit 12.500 Wohneinheiten konnte gerade noch verhindert werden.

Die Abrißwut ist heute in West- und Osteuropa überwiegend gebannt. Für fast ein Fünftel der Bevölkerung des Kontinents gibt es keine langfristigen Wohnalternativen. Zu real ist die Gegenwart riesiger Großsiedlungen der einstmals sozialistischen Länder, in denen in den 60er, 70er und 80er Jahren millionenfach per Plansoll Wohnraum hochgezogen wurde, deren Mieterstruktur aber (noch) nicht den Rang der Zweitklassigkeit ausweist. Für die meisten westeuropäischen Vorstädte gilt zwar weiterhin, daß sie hauptsächlich die Orte für bröckelnde Fassaden, soziale Segregation und Ghettoisierung bilden. Diese Quartiere zu sprengen oder sich selbst zu überlassen – worauf etwa die französische Rechte bei einigen „Villes Nouvelles“ spekuliert –, bedeutete indes keine radikale Lösung, sondern Radikalisierung.

Was bleibt, so eine Studie zu Großsiedlungen des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), ist der Versuch, sich „tastend“ den städtebaulichen Ungetümen zu nähern, „sie weiterzubauen, zu vitalisieren und ökologisch aufzuwerten“ – und dies gleichzeitig mit den Bewohnern zu wagen. Wo es bei den west- und osteuropäischen Satellitenstädten jenseits der Pariser Péripherie, in Valle de Hébron bei Barcelona oder im Amsterdamer Bijlmermeer, in Berlin-Marzahn, Moskau- Iwanowskoje oder im polnischen Nowa Huta hakt, liegt auf der Hand. Jedes dieser uniformen Gebilde ist nicht Stadt, hat keinen Schwerpunkt, es fehlt an bergenden, differenzierten Räumen, baulicher Mischung und gestalteten Grünanlagen. Sanierung tut Not, Identität muß hergestellt werden, „sonst zerlegen die Jugendlichen Stück für Stück ihre Umgebung, die nichts mit ihnen gemein zu haben scheint“, wie es die niederländische Architektin Helga Faßbinder formuliert.

In Berlin-Marzahn, der größten Plattenbausiedlung Europas mit 61.000 industriell gefertigten Wohneinheiten für 160.000 Menschen, wird deshalb mit rund 3,6 Milliarden Mark aus dem Haushalt des Bundesbauministeriums ein Programm „Experimenteller Wohnungsbau“ umgesetzt, das neben der Modernisierung von Wohnungen hauptsächlich auf die Verbesserung und Urbanisierung des städtebaulichen Umfeldes abzielt. Die locker verteilten Zeilenbauten werden zu Blöcken „arrondiert“, in den Innenhöfen Spielplätze und Kindertagesstätten errichtet. Straßen erhalten mit Baukörpern Kanten und Ecken. Arbeitsstätten, Kultur- und soziale Infrastruktureinrichtungen, Einkaufszentren, Handels-, Büro- und Gewerbebauten sowie Gastronomien werden um neue Plätze und Stadträume zu Quartieren gefaßt. Es gehe darum, die „vorhandene großstädtische Struktur zu begreifen und weiterzubauen“, erklärt der Berliner Architekt Urs Kohlbrenner. Postmoderne Verhübschungen mit kleinen Häuschen führten nicht weiter, eher die Architektursprache der klassischen Moderne aus den 20er Jahren. Klotzen, nicht kleckern ist angesagt.

Die Berliner „Weiterbau-Konzepte“, die größtenteils auch auf die rund 380 weiteren Plattensiedlungen in Ostdeutschland angewendet werden sollen, basieren auf den Erfahrungen der Amsterdamer Siedlung Bijlmermeer. Drohte diese einst total zu verslumen und das raue Pflaster zum sozialen Brennpunkt im Stadtgrundriß zu werden, so ist heute durch Wohnumfeldverbesserungen und die qualitative Aufwertung von Straßen, Plätzen und Freiflächen die ungeliebte Satellitenstadt auf dem Weg, ein wenig Urbanität und Identität zu erlangen.

Neu in Bijlmermeer waren die politischen Instrumente zur Sanierung. Statt der üblichen kommunalen Verordnungen wurden Mieterräte und Stadtforen gegründet, in denen erst einmal die Defizite debattiert wurden, bevor sich ein „integrierter Planungsstab“ aus Mietern, Architekten, Politikern und Sozialwissenschaftlern an die baulichen Maßnahmen machte. Außerdem legte die Siedlungsverwaltung Wert darauf, mit privaten Wohnformen eine gemischte Bevölkerungsstruktur zu erreichen. „Es ist wichtig“, meint der Stadtsoziologe Bernd Hunger, „die Entwicklungen für die Bevölkerung erlebbar werden zu lassen“ und die Beteiligungsformen über die Zukunft des Wohngebietes zu stärken. Selbsthilfeorganisation, Vor- Ort-Büros und Partizipation bildeten Schritte zur Identitätsfindung und Akzeptanz der Siedlung: Heimat statt Entfremdung?

Die Frage bleibt. Was aus den „Inseln der Gegenwart“ wird, wie man in Rußland die tausend Trabantenstädte zwischen Kiew und Wladiwostok bezeichnet, ist offen. Sowohl in den sozialistischen Wohnkomplexen, ob in Ivanowskoje für 60.000, in Nowa Huta östlich von Krakau für über 140.000 oder in Nowe Tychy bei Katowitz für 130.000 Menschen, als auch bei den westlichen Betonklötzen läßt sich die bauliche Trostlosigkeit nicht völlig entsorgen. Nicht alle Bewohner der „Platte“ werden ausrasten wie die Hools oder Skins. Nicht jede Siedlung ist verdammt, auf ewig Terra non grata zu bleiben, denn Urbanität ist bau- und lebbar. Doch die Perspektivlosigkeit leerer öffentlicher Kassen und ein dynamischer wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel schmälern nicht das Risiko, daß die steinernen Inseln im Stadtgrundriß bleiben, was sie sind: Gegenwelten unserer Zivilisation.