■ Ruanda beginnt mit eigenem Kriegsverbrechertribunal
: Die europäische Arroganz

Wieder erleben wir den „Striptease unseres Humanismus“ (Jean-Paul Sartre): Locker lassen wir Völkermorde zu. Kambodscha, Ost-Timor, Tschetschenien und Ruanda. In Ruanda: in sechs Wochen fast eine Million Zerhackte. Die Macheten wurden seit dem 6. April 1994 nicht mehr kalt, soviel Menschfleisch war zu zerhacken.

Das alles lassen wir geschehen. Wir ziehen sogar im April 1994 pünktlich unsere Euro-Blauhelme ab, weil es nicht sein darf, daß einem unserer wertvollen bewaffneten Bleichgesichter mit Euro-Lebensversicherung ein Haar gekrümmt wird. Macht nichts: Es waren nur Schwarze, die ermordet wurden.

Aber dann – bei der Aufarbeitung des Genozids – sind wir Euro-Menschen wieder ganz groß da und in unserer natürlichen Position, als Lehrer und Be-Lehrer der unbedarften Schwarzafrikaner. Für das „Ruanda International Tribunal“ in Arusha – Ableger des Jugoslawien-Tribunals in Den Haag – setzen wir natürlich die Regeln fest: keine Todesstrafe! Bei den Nürnberger Prozessen gab es die Todesstrafe noch. Schließlich müssen wir die Schwarzen zu unserem Menschenrechtsfortschritt erziehen. Eine Million Zerhackte in einem Crime passionel – das mag ja hingehen. Aber beim Tribunal: bitte – keine Todesstrafe.

Die Ruander verstehen das nicht. Wenn Kamerun den Interhamwe-Schlächter Colonel Bagosora nach Arusha ausliefert, dann hat der das große Los gezogen: keine Todesstrafe!

Deshalb wollen die Ruander die juristische Ahndung der Verbrechen jetzt in ihre eigenen Hände nehmen. So begann gestern der erste Prozeß gegen den Krankenpfleger Deogratias Bizimana und Egide Gatanzi. Beiden droht die Todesstrafe. Dieses Verfahren beginnt spät, aber es beginnt. Immerhin wurden 80 Prozent der Richter des Landes ermordet. Es wird Zeit, daß die Prozesse beginnen, denn mehr als 74.000 Ruander vegetieren in schrecklich überfüllten Gefängnissen, ersticken oft dabei, so eng gepfercht müssen sie nebeneinander stehen. Liegen zu können, um zu schlafen, ist ein exorbitanter Luxus.

Wir Europäer schaffen es – mit zwei internationalen Nato-Armeen – noch nicht einmal, die Hauptkriegsverbrecher Mladić und Karadžić zu fassen. So fragt sich: Wann werden wir lernen, auf Oberlehrergesten zu verzichten? Rupert Neudeck

Der Autor ist Redakteur beim Deutschlandfunk und Begründer der Initiative Cap Anamur, die vietnamesische Boatpeople rettete