Und ewig quaken die Wälder

Mit einer „Regenwald-Akademie“ sucht der deutsch-brasilianische Verein „Salve Floresta“ Wege für eine sanfte Nutzung des atlantischen Küstenwaldes. Touristen bieten den dort lebenden Menschen eine neue Einnahmequelle  ■ Von Thomas Pampuch

Pünktlich nach Sonnenuntergang beginnt an dem kleinen Weiher neben den beiden flachen, langgestreckten Gebäuden das Konzert. Die Solisten des Bläsersatzes sind unsichtbar, doch ihre Musik ist kräftig und ausdauernd. Die ganze Nacht werden sie ihre Liebesweisen über den Teich und durch das Tal schicken. Und erst beim Morgengrauen, wenn alles wohlig unter den Moskitonetz-Baldachinen schlummert, verklingen die Froschsymphonien von Tapirai. Dann gehört der Teich wieder den zwei festansässigen Entlein, einem schwarzen und einem weißen, die unermüdlich gründeln und ihr Liebesspiel eher lautlos betreiben.

Bei den Gebäuden handelt es sich um ehemalige Schweineställe inmitten eines Tals im Urwald. Sie sind in den letzten Jahren liebevoll zu Schlafzimmern und einem gemütlichen Eß- und Aufenthaltsraum umgebaut worden. Wir sind in der „Regenwald-Akademie“ des deutsch-brasilianischen Vereins „Salve Floresta“, 140 Kilometer südwestlich von São Paulo, 14 Kilometer von der kleinen Stadt Tapirai („Wasser für den Tapir“) entfernt. Seit drei Jahren kommen hier Reisende aus aller Welt her, um sich unter kundiger Führung die Schönheiten des Regenwaldes anzusehen. Und damit tragen sie nicht nur zu seiner Erhaltung bei, sondern sie helfen auch den hier lebenden Menschen, die bis vor kurzem von diesem Wald gelebt haben und nun neue Beschäftigungsmöglichkeiten suchen.

Wer es sich leisten will, beginnt den Weg nach Tapirai mit einem Flug von Rio de Janeiro nach São Paulo. Alle halbe Stunde startet eine Varig-Maschine der Ponte Aereo vom Lokalflughafen Santos Dumont, zu Füßen des Zuckerhuts. Mit etwas Glück bekommt man (wenn man rechts sitzt) die Stadt mit ihren Buchten, Hügeln und Stränden wie auf dem Silbertablett in der Morgensonne serviert. Das Flugzeug folgt der Küste und biegt dann landeinwärts. Im letzten Drittel der etwa 50 Minuten überfliegt es die Hochhäusergebirge des 18-Millionen-Molochs São Paulo, um schließlich in Congonhas zu landen. Vom Autobusterminal Barra Funda sind es noch knapp vier Stunden Fahrt nach Tapirai. Ist man einmal aus der Großstadt heraus, beginnt eine liebliche Hügellandschaft. Langsam wird die Gegend immer grüner, und in Tapirai ist man an den Pforten eines der schönsten Waldgebiete der Erde angelangt.

Der Wald heißt „Mata AtlÛntica“. In dem so angenehm von Nasal- und weichen Zischlauten durchwobenen brasilianischen Portugiesisch klingt das wie eine Verheißung. Und in der Tat hat der atlantische Regenwald Brasiliens vieles und Wunderschönes zu bieten: immergrüner tropischer Wald, Hügel, Flüsse, Wasserfälle und eine Vielfalt an Pflanzen und Tieren, die die des Amazonasregenwaldes, des großen flachen Bruders im Norden, noch übertrifft. Nicht weniger als 476 verschiedene Baumarten sind in dem tropischen Paradies gezählt worden, berichtet die Zeitschrift SOS Mata AtlÛntica in ihrer jüngsten Ausgabe. Damit verfügt die Mata AtlÛntica, was Bäume angeht, über die größte Biodiversität der Welt.

Selbst Isaac und Marcelo, die beiden Naturführer von Salve Floresta, kennen natürlich nicht jeden Baum beim Namen. Niemand kann sich die alle merken, genausowenig wie die über 800 Epiphytenarten, die Bromelien und Orchideen. Doch die beiden Biologen kennen jeden Winkel, jeden Wasserfall, jede Furt im Umkreis. Sie wissen, wo es die köstlichen Walderdbeeren gibt, sie überraschen einen immer wieder mit neuen wohlschmeckenden Früchten mit unaussprechlichen indianischen Namen, und sie haben einen Blick für das Getier, das am Boden und in den Bäumen kreucht und fleucht. Insekten, Schlangen, Schnecken, Affen, Wildkatzen und Vögel, die selbst im Deutschen über so exotische Namen wie „Weisscheitelpipra“ und „Nacktkehlglöckner“ verfügen.

Mit Gummistiefeln und Machete bahnen wir uns auf engen Trampelpfaden den Weg durch ganze „Urwaldkathedralen“ aus Bäumen, Lianen und Blattwerk. Immer wieder waten wir durch glasklare Bäche oder erfrischen uns mit einem Bad unter einem malerischen Wasserfall.

Paradiese haben es schwer auf der Erde. Und die Mata AtlÛntica nicht erst seit gestern. Von den 1,1 Millionen Quadratkilometern, über die sich der brasilianische Küstenwald noch im 19. Jahrhundert erstreckte (und schon zu der Zeit waren es nur noch 80 Prozent des ursprünglichen Bestandes), stehen heute noch gerade 8,8 Prozent. Brasilien ist mit seinen 150 Millionen Einwohnern immer noch ein Land, dessen Bevölkerung im wesentlichen in den Gebieten nahe der Küste lebt, genau da also, wo sich einst endlos die Mata ausbreitete. In São Paulo ist von dem Wald nichts mehr zu spüren – bis auf die Tatsache, daß die Stadt ihr Trinkwasser von dort bezieht. In Rio gibt der Tijuca-Wald jenseits der berühmten Strände immerhin noch eine Vorstellung von der einstigen Vegetation.

Doch verglichen mit den Wanderungen und Ausflügen bei Tapirai, ist Tijuca nur ein müder Abklatsch, ein Freizeitpark für gestreßte Cariocas. So führt uns etwa eine mehrtägige Tour von der Regenwald-Akademie bis zur Atlantikküste – 14 Kilometer Sandstrand – und dann im Boot an den Mangrovenwäldern des Flusses Una entlang. Geschlafen wird in Hängematten oder in Laubhütten, gegessen werden selbstgefangene Fische, Krebse und Garnelen. Gute Küche nämlich wird bei Salve Floresta großgeschrieben, und im Stammhaus am Teich arrangiert Köchin Rosa um die traditionelle brasilianische feijao (Bohnen und Reis) jeden Tag neue Köstlichkeiten, die am letzten Tag in der unübertroffenen Mango- Mousse kulminieren.

Reine Naturidylle für Erstweltler zu liefern ist freilich nicht das ausschließliche, ja nicht einmal das Hauptziel von Salve Floresta. Dr. Carlos Soares Pinto, ein umtriebiger Soziologe und Ökologe, der in München studiert hat und seit einigen Jahren dort auch wieder ansässig ist, hat mit dem von ihm 1989 gegründeten Verein eine ganze Reihe von Plänen: Ihm geht es um eine „sanfte Nutzung“ des Waldes, in „Eigenregie der Einwohner“. Dazu betreibt Salve Floresta verschiedene Landwirtschafts- und Ausbildungsprojekte in Brasilien und führt in Deutschland laufend Informationsveranstaltungen und Ausstellungen durch. Unterstützt wird diese Arbeit durch den Non- profit-Vertrieb von „Floresta Naturwaren“, die von getrockneten Bananen bis zu ätherischen Ölen reichen. Damit soll durch Direktimport von Produkten aus dem Regenwald die ökonomische Existenz der Einheimischen (die den Endpreis der Waren selbst bestimmen) gesichert werden.

Wie wichtig diese Versöhnung von Ökonomie und Ökologie ist, kann in der Regenwald-Akademie – und um sie herum – eingehend studiert werden. Tapirai hat schwere Zeiten hinter sich. Das erste, was man sieht, wenn man in die Stadt mit ihren inzwischen wieder zehntausend Einwohnern einfährt, ist ein großes Plakat: „Tapirai, a re- cidade“ – die wiedererwachte Stadt, steht darauf. Vor vier Jahren war die Stadt nämlich buchstäblich am Ende. Grund dafür war Rio 92. Auf dem UNO-Umweltgipfel war beschlossen worden, die Reste der Mata AtlÛntica durch das Dekret 750 unter Naturschutz zu stellen. Angesichts des jahrhundertelangen Raubbaus eine an sich vernünftige Maßnahme. Bloß an die Menschen, die von dem Wald lebten, hatten die unter dem Zuckerhut versammelten UNO-Bürokraten damals wenig gedacht. Die aber hatten vor allem von der Herstellung von Holzkohle und dem Verkauf der beliebten Palmenherzen gelebt, die sie aus dem Wald durch Abschlagen der Palmito-Palmen gewannen. Tapirai wurde eine Stadt von Arbeitslosen, viele wanderten ab, viele lebten von der Armenspeisung.

Will man etwas über diese schwierigste Zeit Tapirais erfahren, trifft man sich am besten mit Max Ramm, dem Chef des örtlichen „sindicato rural“. Max, Jahrgang 28, ist 1950 von Stralsund nach Brasilien ausgewandert und kennt Tapirai seit 1957, als er dort das erste (und einzige) Kino betrieb. Heute lebt er als Rentner, kleiner Grundbesitzer und ehrenamtlicher Präsident der Bauernvereinigung in Tapirai. „Natürlich gab es nach dem Dekret viele Proteste“, berichtet Max, „weil die Leute ihren Lebensunterhalt verloren haben... Wir hatten viele Verhandlungen mit Regierungsvertretern und haben dann durchgesetzt, daß die Leute wenigstens ihr Ackerland weiter bestellen können.“ Für die Palmitos wurde ein Anbauplan ausgearbeitet, der gleichzeitiges Neuanpflanzen zur Pflicht machte. Die palmiteiros freilich, die im Wald einfach wilderten, ohne sich um Nachhaltigkeit zu kümmern, sind heute doppelt illegal: Neben den Waldbesitzern ist ihnen jetzt auch die Forstpolizei auf den Fersen. Dieser Beruf wird wohl aussterben.

Max hat inzwischen wieder Hoffnung für Tapirai und die Reste der Mata AtlÛntica. Der Tourismus spielt dabei eine wichtige Rolle. „Da kommt allmählich was in Gang.“ So gibt es ein Kulturabkommen mit Luxemburg, das ein eigenes Programm: „Helft Tapirai“, eingerichtet hat, wozu auch der Ausbau von Unterbringungsmöglichkeiten gehört. Auch Salve Floresta lobt er als eine Organisation, „die überall hilft, neue Lebensmöglichkeiten für die Region zu finden“ – im Tourismus wie auch bei der nachhaltigen Produktion. „Je mehr Leute herkommen, desto mehr Überlebenschancen haben die Menschen hier.“

Natürlich kann Tourismus, auch sanfter Tourismus, allein nicht eine Region oder den Regenwald retten. Das bildet man sich auch bei Salve Floresta nicht ein. Getreu der Devise „Global denken, lokal handeln“ aber will der Verein – der sich im übrigen nicht als karitative Organisation oder Almosengeber versteht – Anregungen geben, auf überschaubarer Ebene „Lösungsmodelle für den Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie“ zu finden. „Gigantische Summen können nur in brutalen Projekten enden“, hat der ehemalige brasilianische Umweltminister José Lutzenberger einmal gesagt. Der mit bescheidenen Mitteln arbeitende Verein vertraut auf „die Umsetzung von Einsicht und Hilfsbereitschaft in Kommunikation und Aktion für die Umwelt“.

Große Pläne aber hat Salve Floresta dann doch – wie der Schneeball, der träumt, eine Lawine zu werden. Die Regenwald-Akademie soll zu einem Motor der Region werden: eine Begegnungsstätte zwischen Einheimischen und Europäern, ein Bildungs- und Ausbildungszentrum für Studenten und Schüler der Region, vielleicht sogar einmal eine Art Forschungszentrum für eine bessere und umweltverträglichere Nutzung der Ressourcen der Mata AtlÛntica. So will man als gutes Beispiel für andere Regionen Brasiliens wirken und setzt auf die Vernetzung vieler kleiner Initiativen. Die „sanften“ Touristen aus Übersee können dabei helfen – ohne zu stören. Und die Frösche im Teich werden weiter quaken. Nachhaltig.

Informationen über Reisen in die Regenwald-Akademie und über die Arbeit von „Salve Floresta“ sind erhältlich bei: Salve Floresta

e. V., Zentnerstr. 19, 80798 München,

Tel.: (089) 1232677,

Fax: (089) 181315