Retuschen am Terror

Verwirrung stiften, Mißtrauen erzeugen. Das Weiterleben des rumänischen Geheimdienstes Securitate drückt sich in einem „Weißbuch“ über die Dichter und den Geheimdienst aus. Rumäniens Intellektuelle diskutieren  ■ Aus Bukarest Keno Verseck

„Alles löste sich in Nebel auf. Die Vergangenheit war ausradiert, und dann war sogar die Tatsache des Radierens vergessen, die Lüge war zur Wahrheit geworden“

(George Orwell, „1984“).

Der rumänische Informationsdienst SRI verdiente für sein Wirken im Rumänien nach Ceaușescu den Titel eines „Wahrheitsministeriums“ im orwellschen Sinne. Offiziell sieben Geheimdienste gingen nach dem Sturz des Diktators aus dem allmächtigen Repressionsapparat Securitate hervor. Der SRI ist unter allen nicht nur der wichtigste.

Auf der Basis einer geheimen Anordnung übernahm der SRI Anfang 1990 den größten Teil der Archive, des Personals und der Strukturen der Securitate. Die altneuen Geheimdienstler betrieben jetzt weniger offenen Terror, brachten dafür aber feinere Methoden zu neuer Blüte: neben Bespitzelung gezieltes Streuen von Gerüchten und Falschinformationen, Veröffentlichung von gefälschten Dokumenten und selektierten Securitate-Personalakten. Das Ziel: Regimekritiker diskreditieren, Verwirrung unter ihnen stiften, Mißtrauen erzeugen.

Dieses Prinzip liegt auch einem „Weißbuch der Securitate“ zugrunde, das der SRI jüngst vorstellte. Es trägt den Untertitel „Literarische und künstlerische Geschichten 1969 – 1989“ und versammelt ausgewählte, geheime Securitate-Berichte über die rumänische Kulturszene aus jener Zeit. Nominell der fünfte, ist es faktisch der erste erhältliche Band einer ganzen Reihe von Weißbüchern, deren Erscheinen seit zwei Jahren angekündigt wird.

Damit beginnt die Groteske: Nichts ist in Rumänien geheimer als die Securitate-Archive. Ein Gesetz verbietet den Zugang zu ihnen während der nächsten vier Jahrzehnte, es sei denn, der Direktor einer Institution, die Archivbestände der Securitate besitzt, genehmigt eine Akteneinsicht. Außer der Redaktion der Weißbuch- Reihe konnte in Rumänien bisher offiziell niemand Securitate-Akten einsehen.

Die Betroffenen, um die es im Weißbuch über die rumänische Kulturszene unter Ceaușescu geht, wurden weder gefragt, ob sie mit der Veröffentlichung von Auszügen aus ihren Personalakten einverstanden sind, noch hatten sie bei der Auswahl der Dokumente ein Mitspracherecht.

Der Band solle „Aufschluß über die Natur des repressiven Systems in Rumänien und seine Entwicklung“ geben, wie der Koordinator der Weißbuch-Reihe, Mihai Pelin, sagt. Der groteske Hintergrund: Der Plan zur Weißbuch-Reihe stammt vom SRI-Chef Virgil Magureanu selbst. Er war vor 1989 Gruppenführer von Securitate- Spitzeln, 1989 als zentrale Figur am Sturz und der Erschießung Ceaușescus beteiligt und leitet den SRI seit 1990 ununterbrochen. Pelin seinerseits arbeitete vor 1989 als Kolumnist der ultranationalistischen Zeitschrift Saptamîna (Die Woche), die der Securitate nahestand. In dem Blatt schrieben Ceaușescus Hofdichter und Propagandisten eine wüste faschistoid- rumänozentrische Ideologie zusammen, und aus ihm gingen nach 1990 die neofaschistische Zeitung RomÛnia Mare (Großrumänien) sowie die Partei gleichen Namens hervor.

„Jetzt werden die einstigen Täter zu Experten über ihre einstigen Opfer“, sagt der Dichter Mircea Dinescu. Und zu Retuscheuren des Terrors, ließe sich hinzufügen. Statt eine Innenansicht des Repressionsapparates zu zeigen, geht es im Weißbuch darum, die Securitate reinzuwaschen und die Geschichte neu zu arrangieren.

Die Dokumente des Bandes sind größtenteils anonyme Spitzelberichte über rumänische Schriftsteller, Dichter, Maler, Schauspieler, Publizisten und Philosophen. Zum geringeren Teil handelt es sich um namentlich gekennzeichnete Synthesen solcher Spitzelberichte, geschrieben von Securitate- Offizieren – also von den Vorgesetzten der Spitzel – an Funktionäre aus dem Parteiapparat.

Die Berichte beschränken sich auf Darstellungen der Betroffenen, ihrer Aussagen, ihrer Handlungen und sind in einem nüchternen, konstatierenden Stil geschrieben. In nur acht (!) von insgesamt 505 Dokumenten ist von Maßnahmen gegen die Betroffenen die Rede. Passagen zu Verhaftungen und Verurteilungen von Künstlern, zu psychologischem Terror, Folter und Mord, also zur alltäglichen Praxis der Securitate, fehlen fast ganz.

Völlig unklar bleibt die Struktur des Repressionsapparates. „Wir erfahren über die Securitate“, sagt der Philosoph Andrei Pleșu, „daß sie eine Ansammlung von Funktionären war, die Gespräche registrieren mußten. Im Buch steht, daß ich abgehört wurde, aber nicht, welche Maßnahmen die Securitate in der Folge traf. Daß ich entlassen wurde, daß vor meiner Haustür Polizisten standen, daß man mich nur mit Vorlage des Personalausweises besuchen durfte.“

Nicht alle Tricks des Weißbuches sind so billig. Die Auswahl der Dokumente zeigt ein raffiniert verzerrtes Bild der Verhältnisse in der rumänischen Kulturszene unter der Diktatur. Uneingeweihten vermittelt sie eine Pseudorealität, Betroffenen bietet sie einen Fundus für gegenseitige Verdächtigungen. Vor allem ignoriert sie konsequent die Rangordnung der mehr oder weniger Verfolgten und der mehr oder weniger Privilegierten und erweckt den Eindruck, alle wären gleichermaßen Opfer gewesen.

Obwohl der Band ausdrücklich den Anspruch erhebt, eine Dokumentation über den Widerstand im Kulturbereich zu sein, fehlen fast alle diesbezüglichen Dokumente. Darunter: über die Aktionen des Schriftstellers Paul Goma, der 1977 eine rumänische Charta 77 zu gründen versuchte und daraufhin ins Exil getrieben wurde; über den Dichter Mircea Dinescu, der unter Publikationsverbot und Hausarrest stand, dessen Name nicht erwähnt werden durfte; über Ellenpontok (Kontrapunkte), die erste Untergrundzeitschrift Rumäniens, die 1982 Angehörige der ungarischen Minderheit herausgaben; über die „Aktionsgruppe Banat“, den Kreis rumäniendeutscher Schriftsteller, aus dem 1975 unter anderem Richard Wagner und William Totok verhaftet wurden.

Dagegen enthält das Weißbuch zahlreiche Dokumente über Ceaușescus Hofdichter und Ideologen – Berichte, Einschätzungen, Protokolle abgehörter Telefongespräche über Eugen Barbu, die graue Eminenz der Nationalisten und Chefredakteur der Saptamîna, über den antisemitischen Pamphleteur Corneliu Vadim Tudor, über Adrian Paunescu, Ceaușescus national-sozialistischen Hofpoeten.

Der Diktator ließ sie ebenso überwachen wie alle anderen auch, egal ob sie höchste Parteifunktionäre oder Regimegegner waren. Unerwähnt bleibt das Verhältnis der nationalistischen Cliquen um Barbu und Paunescu zur Diktatur: Sie vertraten das Postulat eines Rumänien als streng autochtone, christlich-orthodoxe, ethnisch reine Nation. Aus dieser Haltung heraus sympathisierten sie mit dem nationalstalinistischen, autarkiebesessenen Ceaușescu-Regime oder sahen ihre Vorstellungen sogar in ihm verwirklicht. Und aus dieser Haltung heraus kollaborierten sie, selbst wenn sie beklagten, daß Ceaușescu einen zu weichen Nationalismus vertrat.

Für den SRI-Chef Virgil Magureanu existiert weder die Rangordnung der Schuld noch die der Courage. Er stellt im Vorwort allen im Band Erwähnten ein Ehrendiplom des Widerstandes aus: „Aus diesen Seiten scheint der kontinuierliche und beharrliche Widerstand der rumänischen Intellektuellen hervor. Sie waren permanent freie, mutige Menschen.“

Die Reaktionen auf derlei Verzerrungen blieben in den rumänischen Medien bisher spärlich. Die Mehrheit der Kommentatoren begrüßte das Weißbuch als eine der „wichtigsten Erscheinungen seit 1989“ und hielt es Magureanu zugute, daß er wenigstens einen selektiven Blick auf die Securitate ermöglichte. Der bekannte Literaturkritiker Eugen Simion forderte sogar, daß anhand des Bandes „sehr vieles in der rumänischen Literaturgeschichte der Ceaușescu- Periode neu bewertet“ werden müsse.

Nur wenige Intellektuelle, wie Mircea Dinescu oder Andrei Pleșu, haben sich bisher kritisch zum Erscheinen des Bandes geäußert. Andere, wie etwa der Vorsitzende der Schriftstellervereinigung Aspro, Ion Bogdan Lefter, erwägen, den SRI zusammen mit einigen Kollegen wegen Verletzung des Urheberrechtes zu verklagen. Die bekannte Architektin Mariana Celac lehnt es überhaupt ab, sich das Weißbuch anzuschauen. „Jetzt beginnen die kriminologischen Diskussionen darüber, wer die Texte geschrieben hat, und dabei geht das Problem der individuellen Verantwortung, die jeder für die Allgemeinheit trägt, unter“, sagt sie. „Mich interessiert nicht, wer die Spitzel waren, sondern warum sie es waren. Das Schweigen sollte nur gebrochen werden, wenn es um öffentliche Funktionen geht. Dann wären auch die Manipulationsmöglichkeiten geringer, die ein solches Weißbuch schafft.“

Auf die vielleicht treffendste Formel hat der Publizist Dan C. Mihailescu die Manipulation des Weißbuches gebracht. In der Wochenzeitung 22 schrieb er: „Man erfährt viel und doch nichts. An sich ist alles wahr und dokumentiert, aber das Ergebnis ist eine riesige Fälschung.“

Trotz des Wahlsieges der demokratischen Opposition am 17. November wird Virgil Magureanu wahrscheinlich weiterhin SRI- Chef bleiben, unter anderem wegen seiner „Verdienste“ bei der Öffnung der Securitate-Akten. Mihai Pelin dagegen möchte, wie er sagt, irgendwann einmal ein „Weißbuch über die Dissidenten in der Securitate“ zusammenstellen.