"Wir haben den kleinen Kohl in uns"

■ Als sie elf waren, wurde er Kanzler: Drei StudentInnen über ihre Prägung durch die Ära Kohl

Seit sie Kinder sind, kennen sie nichts als Kohl. Als sie die Grundschule beendeten, nahm er auf seinem Sessel Platz; als sie Abitur machten, saß er noch immer da; und wenn sie demnächst ihr Studium beenden, wird er die Jahrtausendwende vielleicht auch noch aussitzen.

Joachim Greiling (25) kommt aus dem nordrhein-westfälischen Schwelm. Von 1991 bis 1995 studierte er evangelische Theologie in Leipzig, seit einem Jahr setzt er sein Studium in Berlin fort.

Julia Kussius (25) aus Aschaffenburg studiert Gesellschaftswissenschaften und Wirtschaftskommunikation. Sie lebt seit 1990 in Berlin.

André Richter (25) stammt aus Altenburg bei Leipzig. 1982 zog seine Familie nach Heidelberg. Er studiert seit 1992 Publizistik und Theaterwissenschaft in Berlin.

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taz: Kennen Sie Kohl-Witze?

Joachim Greiling: Kohl sitzt mit Thatcher und Reagan im Flugzeug. Thatcher bestellt einen Kaffee. „Me too“, sagt Reagan. „Me three“, sagt Kohl.

Ihre erste Erinnerung an ihn?

André Richter: Ich hab ihn im Fernsehen gesehen, als er gewählt wurde. Da war ich gerade elf.

Julia Kussius: Ich kann mich erinnern, wie Helmut Schmidt abgetreten ist, aber nicht, wann ich Kohl zum ersten Mal wahrgenommen habe.

Joachim Greiling: Ich habe noch den Wechsel von Schmidt zu Kohl im Kopf. Und dann erinnere ich mich an den Skandal wegen Bitburg, das war dann schon 1985.

Welche Gefühle löst der Gedanke an Kohl aus?

Joachim Greiling: Gleichgültigkeit, manchmal auch Unzufriedenheit und Wut.

Julia Kussius: Eine Mischung aus Abgestoßensein und Gleichgültigkeit.

André Richter: Absolute Gleichgültigkeit. Er ist ein hervorragender Politiker. Aber als Mensch ist er mir sehr unangenehm. Er erscheint mir sehr selbstherrlich und machtbewußt.

Trotzdem empfinden Sie keine Aggressionen?

André Richter: Ich bin an ihn gewöhnt. Ich bin mit sehr vielen Sachen überhaupt nicht zufrieden. Aber wenn du jahrelang gegen dieses System auf die Straße gegangen bist, und es hat sich trotzdem nichts geändert – dann wirst du irgendwann gleichgültig. Inzwischen geh' ich nicht mehr auf die Straße, sondern denke, daß jeder Mensch versuchen soll, gut zu leben und andere gut zu behandeln. Dazu brauch ich keinen Gott und kein System. Es funktioniert bereits alles besser, wenn Leute sich nur mal anlächeln.

Wollen Sie Kohl weglächeln?

Joachim Greiling: So stützt du natürlich das System.

André Richter: Das stimmt schon, aber anders ist es nicht zu ertragen.

Joachim Greiling: Die Gleichgültigkeit kommt auch aus der Hilflosigkeit. Bei unseren Protesten gegen die Kürzungen im Hochschulbereich habe ich die Erfahrung gemacht, daß es niemanden interessiert und nichts bewirkt. Und das Schlimme ist, daß wir fast gar nicht mehr mit einer Reaktion rechnen.

Julia Kussius: Viele politische Entscheidungen sind sehr weit weg, und jeder ist mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Die 68er Studenten waren da noch ganz anders, denen waren globale Fragen überhaupt nicht egal.

Verabscheuen Sie etwas an Kohls Politik?

Julia Kussius: Seine Sozialpolitik.

André Richter: Die Wirtschaftspolitik. In diesem Land dreht sich alles nur um Geld. Jeder guckt nur noch, wie er sein Schäfchen ins trockene bringt. Uns wurde immer eingetrichtert, Konsum ist wichtig, Geld ist wichtig. Ein Ausdruck davon ist die Technokultur. Alles ist o. k. Bloß nicht mehr politisch nachfragen. Das find ich einerseits total blöde, aber andererseits total verständlich.

Joachim Greiling: Was mich extrem stört, ist die Asylpolitik. Da wird eine scheinbar in der Bevölkerung vorhandene Stimmung ausgenutzt, um Leute abzuschieben – wie jetzt die bosnischen Kriegsflüchtlinge. Das ist absolut skandalös. Ebenso die Einschnitte ins soziale Netz, die Umverteilung von unten nach oben und daß so uneinsichtig gespart wird.

André Richter: Es werden kaum noch Lösungen gesucht, es wird nur noch umverteilt.

Joachim Greiling: Keine Krisengestaltung, sondern Durchlavieren. Ich hatte nur ein einziges Mal den Eindruck, daß Kohl etwas aktiv eingebracht hat. Das war sein Zehnpunkteprogramm in der Wendezeit.

Was mögen Sie an Kohl?

Joachim Greiling: Daß er angeblich 18 Eier in seinen Karamelpudding tut.

André Richter: Daß er nach außen noch wie ein Mensch erscheint und relativ impulsiv ist. So wie damals bei der Demonstration in Halle, als er versucht hat, einem Eierwerfer eine zu ballern.

Julia Kussius: So eine Reaktion ist aber eher die Ausnahme. Normalerweise hat er wenig Menschliches und zeigt wenig Engagement.

Joachim Greiling: Was manchmal bei ihm spontan menschlich erscheint, ist doch hauptsächlich Rhetorik.

Was schätzen Sie an seiner Politik?

(lange Pause)

Julia Kussius: Mir fällt nichts ein.

Joachim Greiling: Tja ... vielleicht, daß er die Wiedervereinigung nicht verhindert hat.

André Richter: So falsch war die Wiedervereinigung nicht ...

Gibt es keinen Pluspunkt für Kohl als überzeugten Europäer?

Julia Kussius: Bei Kohl denke ich überhaupt nicht an Europa.

André Richter: Der Europagedanke an sich ist gut, aber nicht so wichtig. Außerdem spielen da doch zum größten Teil Wirtschaftsinteressen mit.

Willy Brandt galt als Visionär, Helmut Schmidt als Technokrat, und Helmut Kohl ist ein ...?

Joachim Greiling: Verwalter.

André Richter: Herrscher.

Julia Kussius: Mir gefällt Herrscher auch sehr gut. Kohl wird ja immer als Gemütsmensch dargestellt, aber wenn man ihn mit anderen Politikern zusammen sieht, strahlt er schon allein durch seine körperliche Größe so eine Macht, fast Übermacht aus – dafür ist Herrscher ein sehr schöner Begriff.

Ist er ein Sinnstifter?

Joachim Greiling: Nicht für mich. Er hat keine Vision, also kann er auch keinen Sinn stiften. Dazu müßte er auch einen Einfluß auf private Einstellungen haben. Und ich erlebe durch Kohl eher einen Rückzug der Politik aus dem Privaten.

Julia Kussius: Seine Botschaft ist: Uns geht's gut, und wir arbeiten alle gemeinsam daran, daß Deutschland ganz, ganz großartig und reich wird.

André Richter: Und daß wir wichtig sind.

Julia Kussius: Vor allem als Wirtschaftspartner.

André Richter: Wir sind wieder wer.

Welche Werte vermittelt er?

Joachim Greiling: Seit er die geistig-moralische Wende angekündigt hat, verzeichnen die Soziologen eine Auflösung der Werte.

Steht er nicht für Sekundärtugenden wie Pflichterfüllung, Fleiß und Strebsamkeit?

Julia Kussius: Aber das färbt nicht ab.

Greiling: Er mag ja fleißig sein, ich bin es deshalb noch lange nicht.

Julia Kussius: Das ist so altmodisch, daß es niemand nachlebt.

Gibt es einen kleinen Kohl in Ihnen?

André Richter: Garantiert. Schließlich sind wir in seiner Ära groß geworden. Der Anspruch zum Beispiel, etwas aus seinem Leben machen zu müssen, Erfolg zu haben, weil es alle von dir verlangen.

Julia Kussius: Der kleine Kohl in dir sagt, daß du möglichst reich werden mußt?

André Richter: Das sagt mir die Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin.

Julia Kussius: Mir fällt auch zuerst Erfolg ein. Das möchte man schon gerne für sich haben, wenn auch ein bißchen gemütlich. Aber das hat nichts mit Kohl zu tun.

Joachim Greiling: In mir gibt es keinen Kohl. Durch meine Erziehung wurden mir andere Werte mitgegeben ...

So daß Sie weder Kohl noch Teufel fürchten ...

Joachim Greiling: Er ist ja auch katholisch.

Ist er ein typischer Deutscher?

Julia Kussius: Er ist bestimmt sehr deutsch.

Was ist an ihm deutsch?

Julia Kussius: Die vorhin gepriesenen Sekundärtugenden.

Joachim Greiling: Seine Starrköpfigkeit und Selbstüberheblichkeit.

André Richter: Er ist schon deutsch, aber nicht typisch wie Strauß zum Beispiel.

Worauf hoffen Sie, wenn er länger an der Macht bleibt?

André Richter: Daß es in zwei Jahren vorbei ist. Unter ihm wird sich nichts ändern.

Julia Kussius: Ich glaube nicht, daß er sich noch einmal als Kanzler aufstellen läßt.

Joachim Greiling: Doch. Er will Deutschland garantiert noch ins neue Jahrtausend führen ...

André Richter: ... herausführen aus dem Sumpf, der durch die Wiedervereinigung entstanden ist, damit er selbst am Schluß besser dasteht.

Julia Kussius: Es steht und fällt mit einem Gegenkandidaten. Wenn die Leute jemanden wählen sollen, von dem sie nicht überzeugt sind, dann wählen sie lieber Kohl.

André Richter: Genau aus diesem Grund ist er noch immer im Amt. Er ist nicht populär, aber er ist der Größte. Unzufriedene gab's auch schon viele vor der letzten Wahl. Aber Scharping war wirklich keine Alternative. Also haben viele Kohl gewählt, auch wenn ihn die wenigsten mögen.

Joachim Greiling: Es ist ja auch noch aushaltbar mit ihm.

Julia Kussius: Aber nur, wenn du von seiner Politik nicht unmittelbar betroffen bist.

Ihre Hoffnung auf Veränderung ist reichlich schwach.

Julia Kussius: Natürlich muß sich etwas ändern ...

Joachim Greiling: ... diese Hoffnung besteht seit 2.000 Jahren.

Julia Kussius: Ich befürchte ja auch, daß wir noch mindestens zehn Jahre auf eine deutliche Veränderung in dieser Gesellschaft warten müssen. Andererseits passiert doch tatsächlich schon eine ganze Menge. Zum Beispiel im Umweltbereich. Gruppen, die noch vor zehn Jahren als Extremisten galten, nehmen jetzt offen Einfluß auf die Politik ...

André Richter: Und haben eine Menge bewirkt.

Was wünschen Sie sich von Kohl?

(lange Pause)

Joachim Greiling: Einmal zum Mond und zurück.

André Richter: Ich würde mal vier Wochen mit ihm reisen und ihm etwas ganz anderes zeigen.

Julia Kussius: Mir fällt dazu nichts ein.

Interview: Ute Scheub

und Bascha Mika