Das Krankenhaus – ein Ort der Schönheit

Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, macht Vorschläge zur radikalen Veränderung des Gesundheitssystems und glaubt an die bevorstehende Revolutionierung der Medizin. Mit ihm sprachen  ■ Dorothee Winden und Ute Scheub

taz: Stellen Sie sich vor, Sie seien ernsthaft krank. Würden Sie freiwillig in ein Krankenhaus gehen?

Huber: Nein. Ich würde zunächst überprüfen, ob ein Klinikaufenthalt überhaupt nötig ist. Wenn ja, würde ich in das Krankenhaus gehen, das die größte Patientenfreundlichkeit aufweist.

Das setzt ein Wissen über vertrauenswürdige Ärzte aus, das Normalbürger nicht haben.

Zugegeben. Deswegen arbeitet die Ärztekammer Berlin mit der Stiftung Warentest zusammen im Versuch, mehr Transparenz im Hinblick auf Qualität und Leistung der Krankenhäuser herzustellen. Wichtiger als das Handwerk der Operateure ist meist die Beziehungsfähigkeit der Ärzte. Das Produkt Gesundheit ist eine gemeinsame Leistung von Arzt und Patient. Die Beziehung ist das, was am stärksten heilt. Medikamente und Apparaturen sind sekundär.

Wie sähe das Krankenhaus der Zukunft aus?

Es ist ein Raum, der Schönheit, Geborgenheit, Ruhe, Schutz bietet, ein geselliger, besinnlicher, kommunikativer Ort. Nicht die Bettenbelegung steht in seinem Zentrum, sondern das Heilen von Menschen. High-Tech ist selbstverständlich, aber nicht Selbstzweck.

Und wie sähe das Gesundheitssystem der Zukunft aus?

Das Gesundheitssystem hat die Wunden zu heilen, die der Kapitalismus schlägt. Ein aggressives Wirtschaftsgefüge wie der Kapitalismus braucht ein sozialintegratives Ausgleichssystem.

Vor 150 Jahren entwarfen die naturwissenschaftlichen Mediziner das Weltbild einer Lebensmaschine, das sich dann weltweit durchsetzte. Diese Medizin ist erfolgreich bei der Lebensrettung, aber völlig hilflos bei chronischen Krankheiten und funktionellen Störungen. 30 bis 70 Prozent der Patienten haben funktionelle Störungen, psychosomatische Probleme, die man mit dem Konzept einer funktionsfähigen Körpermaschine nicht erklären kann.

Gegenwärtig entwickelt sich jedoch eine Art Relativitätstheorie der Medizin, die das Gesundheitswesen so revolutionieren wird wie Einsteins Relativitätstheorie die Physik. Heilkunst wird dann nicht mehr bedeuten, körperliche Reparaturprozesse in Gang zu setzen, sondern ein aus dem Gleichgewicht geratenes Wechselverhältnis von Körper, Persönlichkeit und Kultur neu auszutarieren. Man kann mit Placebos auch Krebsmetastasen wegbekommen. Es gelingt nicht regelmäßig, aber es gibt Zehntausende von nichterklärlichen Heilungen unheilbarer Krankheiten. Es gibt kränkende Kräfte und heilende Kräfte. Gesundheit oder Krankheit sind momentane Ausdrucksform eines kommunikativen Netzwerkes. Die Europäer haben in den letzten 150 Jahren leider nur Krankheiten bekämpft, statt gesundheitsfördernde Kräfte zu stärken.

Die Menschen werden immer älter. Steigen damit nicht zwangsläufig die Gesundheitskosten?

Daß die alten Menschen schuld seien, wird von interessierter Seite ständig behauptet. Die Regel im Alter aber ist: gesund mit Zipperlein. In Schweden, das Deutschland im demographischen Aufbau ein paar Jährchen voraus ist, beträgt der Einfluß der Alterskrankheiten auf die Kosten im Gesundheitswesen nur 0,2 bis 1 Prozent der Krankenkassenbeiträge.

In Deutschland herrscht das öffentliche Bild vor: die Alten rauben die Kassen aus.

Das ist schlichtweg Quatsch. Die Alten werden zunehmend Opfer von Gewinninteressen. Pseudomedikamente werden entwickelt, die die Einsamkeit im Alter verbrämen sollen. Gingkobaumextrakte sollen die Durchblutung fördern, obwohl jeder weiß, daß soziale Durchblutungsförderung wirksamer ist. Allerdings brauchen viele alte Menschen ihre täglichen Tabletten, um ihren Tag zu strukturieren. Die Medizin nutzt ihre soziale Not aus und betreibt ihre künstliche Verkrankung.

Ein Großteil der Krankenversicherungskosten eines Menschen fällt in dessen letzte zwei Lebensjahre, egal ob er 65 oder 85 ist, die werden plötzlich teuer. Der 65jährige ist dabei noch teurer als die 85jährige, weil man die 85jährige eher sterben läßt und den 65jährigen mit allen verfügbaren Apparaten rettet. In diesen Kosten sind also auch Apparatkosten für die künstliche Lebensverlängerung gegen den Willen der Betroffenen enthalten. Wenn man mit alten Menschen darüber spricht, wie sie ihr Leben beenden wollen, sagen die meisten: nicht mit Schläuchen auf einer Intensivstation, sondern zu Hause. Ich will nicht reanimiert werden, wenn mein Herz stehenbleibt. Wenn die Medizin das ernst nehmen würde, sänken manche Kosten.

Damit setzt man sich sofort dem moralischen Vorwurf aus, das Leben nicht genügend zu schützen.

Deutschland tötet im Straßenverkehr doppelt bis dreimal soviel Kinder wie Holland. Viele europäische Länder messen dem Kinderschutz – und Unfälle sind die häufigste Todesursache für Kinder zwischen vier und zehn – viel mehr Bedeutung bei als wir.

Wir erleben derzeit wieder einen heftigen Verteilungskampf innerhalb der Ärzteschaft. Gerade engagierte Hausärzte sind von Praxisschließung bedroht, weil die Honorare für „sprechende Medizin“ ständig sinken. Die Honorare, die qua ärztlicher Selbstverwaltung in den Kassenärztlichen Vereinigungen festgelegt werden, kommen vor allem den Apparatmedizinern zugute. Was tun?

Das heutige Gesundheitssystem gleicht dem Wachstum von Krebszellen: Jedes Einzelteil versucht auf Kosten des Ganzen zu wachsen und reißt aggressiv alle Ressourcen – Nährstoffe oder Geld – an sich. Die verschiedenen Fachgruppen der Ärzteschaft müssen aus dem Konkurrenzkampf um Pfründen aussteigen. Wenn sie das nicht tun, werden sie noch schlimmer leiden müssen, und das geschieht ihnen dann auch recht.

Wer hätte denn die titanische Kraft, das Honorarsystem, überhaupt das ganze Gesundheitssystem umzubauen?

Die Politik muß die Kassen und die Ärzte dazu zwingen. Jeder Betriebswirt weiß, daß im Dienstleistungsgewerbe die Leistung klar definiert werden muß, bevor man Preise festlegt. Das fehlt im gesamten Gesundheitssystem. Es ist keine Leistung, die Anzahl der Gelenkoperationen um tausend Prozent zu steigern. Das ist ein Verdinglichungsprozeß. Man hat die Leistung eines Heilkundigen übertragen auf sein Instrument. Das ist, als wollten Sie einen Zimmermann nach der Zahl seiner Hammerschläge bezahlen.

Wie kommt man aus diesem Verdinglichungsprozeß heraus?

Man muß den Arzt als Person bezahlen. Zwei Dinge machen die Leistung eines Arztes aus: die Beziehungsfähigkeit, die Art, wie er Geborgenheit, Vertrauen, Sicherheit vermittelt. Zweitens die hochkreative Fähigkeit, das Leben von Patienten so zu verändern, daß sie mit ihrer Krankheit zurechtkommen: Gespräche mit Angehörigen führen, einen Handwerker zuziehen, der die Wohnung behindertengerecht umbaut, eine Selbsthilfegruppe finden.

Wie kann man das in einem Honorarsystem abbilden?

Wenn ein Patient einen Arzt wegen seiner Beziehungsfähigkeit zu seinem Hausarzt oder Vertrauensarzt kürt, dann sollte sich das in einer Pauschale niederschlagen, die gegenwärtig etwa 50 Mark im Quartal betragen könnte, egal ob er den Doktor braucht oder nicht. Der Vorteil der Kopfpauschale ist auch, daß die Ärzte die Zahl der hier lebenden Menschen nicht künstlich erhöhen können. 80 Millionen Menschen mal 50 Mark im Quartal ist eine klare und begrenzte Größe. Zweitens würde ich den Zeitaufwand eines Arztes bezahlen, egal ob er Gespräche führt oder das EKG anschaltet. In heutigen Preisen wären das etwa 100 Mark pro Stunde. Auch dieses Honorarsystem hat einen natürlichen Deckel von allerhöchstens 24 Stunden am Tag. Als Kontrollmaßnahme könnte man die Patienten bitten, die Zeitabrechnung eines Arztes gegenzuzeichnen. Wenn ich jetzt 50 Mark pro Quartal und Patient plus 100 Mark Stundenhonorar über die vorhandenen 110.000 Vertragsärzte in Deutschland stülpe, dann komme ich zu einem Honorarvolumen, das mit dem heutigen in etwa identisch ist.

Haben Sie da nicht sofort die Apparatmediziner gegen sich?

Sicher. Aber hier hätte man die Möglichkeit, die Investitionskosten für ein Röntgengerät von den Bedienungskosten zu entkoppeln. Es wäre sogar vernünftig, wenn ein in der Region stehender Röntgenapparat von verschiedenen Ärzten benutzt werden könnte. Der Träger dieses Apparats würde anders finanziert als die Benutzer. Die Investition würde optimiert, der Röntgenarzt würde als Person bezahlt, damit würde das Gesamtsystem billiger.

Wenn Menschen ein fixes Gehalt bekommen, macht sich schnell Beamtenmentalität breit.

Nein, da kommt ein leistungsbezogenes Gehalt von rund 200.000 Mark vor Steuer pro Jahr raus.

Das wird manchen nicht reichen.

Wer Millionär werden will, soll mit Häusern spekulieren oder Ölquellen anbohren.

Wäre es nicht möglich, in einem Teil Berlins modellhaft ein neues Honorarsystem zu erproben?

Ich habe den Krankenkassen und Politikern empfohlen, Berlin in seiner finanziellen Notsituation als Chance zu begreifen. Die Krankenkassen, die Gesundheitssenatorin und ihre Verwaltung, die Kassenärztliche Vereinigung, die Ärztekammer und die Liga der Freien Wohlfahrtsverbände müßten sich gemeinsam verpflichten, einen verantwortlichen Aufsichtsrat für das vernetzte Gesamtunternehmen Gesundheit in Berlin zu bilden. Berlin hätte das Potential für eine Neuorientierung der Medizin. Es tut was für die Republik, es ist Brennglas für die positiven und negativen Seiten des Landes. Mit der Hausbesetzerbewegung in den 80er Jahren ertrug Berlin die Schäden, die pietistische Eltern in Schwaben angerichtet haben. Berlin versorgt die Aidskranken, die in Isny nicht leben können, weil sie dort diskriminiert werden – 20 Prozent der Aidskranken Deutschlands leben hier. Ich habe in meiner Verzweiflung der AOK angeboten, in deren Geschäftsführung einzutreten und sie sanieren zu helfen. Die Arbeitgeber dieser Stadt haben das massiv und aggressiv verhindert. Wenn nur eine Krankenkasse mit der Ärztekammer zusammen die Verhältnisse anpacken würde, könnten wir das Berliner Gesundheitssystem revolutionieren.

Der AOK steht doch finanziell das Wasser bis zum Hals. Warum zieht die nicht mit?

Ich habe den Eindruck, daß die AOK ein maroder Funktionärsapparat ist, der keine innere Orientierung mehr besitzt und die positiven Energien einzelner Mitarbeiter systematisch zerstört. Die Organisation ist nicht selbstbewußt genug, die moderne Gesundheitskasse in die Praxis umzusetzen und ein radikal verändertes Honorarkonzept zu vertreten. Es fehlt der Mut in den Institutionen, die bewegliche Wand unserer Gesetzesnormen mal auszutesten, die eigene Freiheit wieder zu spüren.

Gibt es eine spezifisch deutsche Krankheitskultur? Sind wir Deutschen anders krank als andere?

Wir Deutschen sind zwanghaft, haben eine eher depressive Seite und eine romantisierende Ader. Ein englischer Allgemeinmediziner bemerkte einmal, er erkenne die Nationalität seiner Patienten an ihren Bedürfnissen. Die Deutschen fühlten sich immer dann gut behandelt, wenn sie an Apparate angeschlossen würden. Wir haben offenbar einen fatalen Hang nach Fremdbestimmung und Fremdsteuerung. Das drückt sich auch im deutschen Chefarztsystem aus, das feudale Abhängigkeit schafft und in der Biographie von Ärzten Unterwürfigkeit und Unfähigkeit zur Autonomie züchtet. Sie werden zu willfährigen Soldaten, die als Mediziner den Körper kolonialisieren und sich freiwillig einem gigantischen Profitsystem unterwerfen. Wir Deutschen haben mehr Krankheiten, die mit inneren Verkrampfungen zusammenhängen. Und unsere romantische Ader drückt sich in vermehrten Herzproblemen aus. Den niedrigen Blutdruck gibt es als Krankheit nur hier, andernorts heißt er „German disease“.

Die lebenslustigen Franzosen haben es eher an der Leber, nirgendwo werden mehr Leberschutzpräparate verkauft. Die höchste Lebenserwartung in Europa erreicht die griechische Bevölkerung, obwohl sie gleichzeitig das billigste Gesundheitssystem hat. Auch daraus wird deutlich, daß Heilkunst eine soziale Wissenschaft ist.