Reden Sie etwa mit mir?

Verbrecher, Mörder, Vordrängler beim Bäcker – Wichtige Kernsätze zur Gewaltfrage  ■ Von Kurt Scheel

Gewalt – ein gutes, ein wichtiges, ein brennendes Thema! Einerseits bin ich natürlich strikt dagegen: keine Gewalt! Auf der anderen Seite ist kaum zu leugnen, daß friedenserhaltende beziehungsweise -stiftende Maßnahmen – unter dem Blauhelm! – im Sinne von Korb drei des Helsinki-Abkommens (Unprofor) ohne Gewalt beziehungsweise deren (chirurgische!) Androhung praktisch-faktisch sinnlos oder sogar kontraproduktiv sind – nicht nur Rühe sagt's, auch Joschka und sogar Antje Vollmer sagen's! Nun meinen Sie, das sei ein Widerspruch, ein Dilemma, eine Aporie gar – falsch! Es gibt eben zwei Arten von Gewalt: violentia und potestas, und wenn Sie im Unterschied zu mir leider kein großes Latinum haben, denken Sie doch einfach ans Englische: violence (im Sinne von in die Fresse hauen) und power (im Sinne von Herrschaft, Gewaltmonopol des Hobbesschen Leviathan und so weiter). Bei uns aber, selbst in diesem größeren Deutschland, geht das aufgrund eines undifferenzierten Gewaltbegriffs alles durcheinander – und die Regierung schweigt! Ich nehme daher gern die Gelegenheit wahr, zur Gewaltdebatte mein Scherflein und einige klärende Worte beizutragen, wobei es mir besonders wichtig ist, nicht „abgehoben“, abstrakt-allgemein zu sprechen, sondern auf der Grundlage, ja Basis meiner ganzen Persönlichkeit, ich werde mich also, auch wenn bei manchen das Wort mittlerweile verpönt ist, selber einbringen (müssen) – Gewalt, das ist auch immer die Gewalt in mir (und dir!) selbst.

Auf dem Gehsteig parkende Autos beispielsweise rufen in mir regelmäßig den Wunsch hervor, mittels eines Baseballschlägers die Windschutzscheiben zu zertrümmern. Gewalt gegen Sachen, ach Gottchen, höre ich Sie sagen. Bitte sehr, auch Gewalt gegen Bruder Mitmensch ist mir durchaus nicht fremd. Zum Beispiel stelle ich mir oft vor, den Gehwegzuparker höflich auf das Rücksichtslose seines Tuns hinzuweisen, und er nennt mich „Wichser“, droht mir gar Prügel an! „Du laberst mich an? Kann das sein, daß du mich meinst?“ frage ich und drehe mich so halb um, hinter mich blickend: „Du redest mit mir!?“ Und wenn ich dann diese vier Kanonen hätte (44er Magnum!) und Robert De Niro wäre, dann ginge es diesem Unhold, darauf können Sie einen lassen, ziemlich schlecht.

Moment! Sie sollten jetzt nicht den Stab über mich brechen, denn eigentlich bin ich ein eher sanfter, ja ängstlicher Mensch – es gehört, nebenbei, Mut dazu, das zuzugeben! Und es sind ja nur Phantasien, so Vorstellungen und Wünsche, daß jeden Tag Trümmer und Leichen meinen Weg pflastern ...

Ich kann also nicht behaupten, daß ich gewaltvorstellungsmäßig unter die Zukurzgekommenen zu rechnen bin, au contraire. Andererseits wird mir schlecht, wenn ich Gewalttätigkeiten sehe, in der Realität sowieso, aber sogar im Kino. Und es wird immer schlimmer, früher war ich härter im Nehmen. „Das Schweigen der Lämmer“ und „Sieben“ beispielsweise, zwei wahrscheinlich bedeutende Filme, konnte ich nicht ertragen. „Pulp Fiction“ und „Natural Born Killers“, die ja in violentia auch nicht ohne sind, haben mir merkwürdigerweise nichts ausgemacht, und ich weiß auch warum: Ich fand die Gewalt in diesen beiden Filmen komisch, und deswegen war ich nicht abgestoßen, sondern mußte/konnte lachen.

Erster Kernsatz: Gewalt, die komisch ist oder so angesehen werden kann – denken Sie nur an die Gewaltorgien in Cartoons wie „Tom und Jerry“ –, ist unproblematisch, akzeptabel, vielleicht sogar pädagogisch wertvoll, wie die Kollegen von der Sublimierungsfraktion („Du mußt es rauslassen, Alter!“) behaupten. Wie auch immer: Gewalt und lustig, das geht.

Was nicht geht: Wenn Lee Marvin seiner Freundin Gloria Grahame in „The Big Heat“ eine Kanne heißen Kaffee ins Gesicht schüttet. Mir wurde damals, ich war vielleicht vierzehn Jahre alt, zum erstenmal im Kino bei einer Gewaltszene schlecht. Es kam auch so unerwartet, fast beiläufig. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war ein Schock, irgendwie war der Pakt zwischen Publikum und Film, daß einem nichts wirklich Schlimmes passieren kann, gebrochen.

Ähnlich ging es mir bei „Clockwork Orange“. Wenn Alex und seine Kumpels lustvoll zur Musik von „Singin' in the Rain“ mißhandeln und vergewaltigen, da kam bei mir keine rechte Freude auf, und ich war damals Mitte zwanzig; mir war kotzübel. Ein großartiger Film! Und außerdem bin ich Kubrick-Fan der ersten Stunde. Aber das alles hat nichts genützt, auch nicht der moralisch- unmoralische Schluß: Daß die staatliche, strukturelle Gewalt irgendwie noch fieser ist als das individuelle Zertreten und Zernichten oder so ähnlich. Ich habe mir den Film auch nie wieder angesehen. (Mit Burgess' Roman hatte ich keine Probleme: Der identifikatorische Akt ist beim Lesen ein ganz anderer als beim Filmesehen – aber das ist eine andere Geschichte.)

Zweiter Kernsatz: Gewalt und Lust, der perverse Spaß am Quälen, lang und breit und detailliert geschildert, liebevoll ausgemalt, das geht nicht, bei mir jedenfalls. Und da nützt es mir auch nichts, wenn die Bösewichter ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, am Schluß, denn ich habe vorher abgeschaltet.

Aber was ist mit „Taxi Driver“ und Travis Bickle, wenn der in dem Bordell sein Blutbad anrichtet, und Scorsese ergeht sich nicht in Andeutungen, kann man nicht sagen, er hält voll drauf, läßt nichts aus, und es hört überhaupt nicht mehr auf?

Eine der gewalttätigsten Filmszenen, die ich kenne, und, so oft ich sie gesehen habe, niemals mußte ich dabei die Augen zumachen. Travis ist zwar einigermaßen irre – während ich psychisch kerngesund bin, da können Sie jeden fragen –, und ich bin im Unterschied zu ihm auch kein Taxifahrertyp, sondern mehr ein geistiger Mensch und Bücherleser – aber so ein bißchen, fürchte ich, kann ich mich mit ihm doch identifizieren, mit seinem Haß, seiner Wut, von Gehwegzuparkern, Verbrechern, Mördern und Vordränglern beim Bäcker, dem ganzen Abschaum eben, mißhandelt und gedemütigt zu werden. „Hier ist ein Mann, der sich nicht mehr alles gefallen läßt!“: Recht hast du, Bruder Travis, und du steckst auch in mir, in uns allen (Ausnahme: Rita Süßmuth), aber ja.

Wenn Jimmy Stewart in „Destry Rides Again“ nach Bottle Neck kommt, weil er dort Sheriff werden soll, und alle verarschen ihn, weil er keine Revolver trägt und auch sonst ziemlich pazifistisch ist, und irgendwann platzt ihm dann der Kragen und das ganze Pack und Geschwerl wird ausgeräuchert und niedergemacht: Das ist schön, das tut gut, da möchte man die ganze Menschheit umarmen! (Aber man muß sie schlagen, sagt Lenin.)

Bis in die fünfziger, sechziger Jahre, sagt Mr. Halliwell, spielte Gewalt im Film eine andere Rolle, insofern sie anders, nämlich diskreter gezeigt wurde: Die strengen Zensurbestimmungen des Production Code (Hays Office) verhinderten, daß Gewalttätigkeiten regelrecht und ausführlich zu sehen waren – sie wurden eher angedeutet; mir hat das eigentlich genügt, aber ich habe eben, wie Sie inzwischen wissen, eine ausschweifende Phantasie.

Für diejenigen ohne großes Latinum sei noch einmal betont: Bitte ahmen Sie niemals gewalttätige Handlungen, die Sie in Filmen gesehen haben, nach! Gewalt ist im wirklichen Leben weder lustig noch lustvoll, jedenfalls für die von ihr Betroffenen. Lassen Sie sich von Gehwegzuparkern und anderen Unholden nicht provozieren („Wichser“): Skinhead, pack den Schläger ein, wir wollen weich wie Wasser sein. Unsere Devise ist und bleibt: keine Gewalt!