Angriff auf die Moderne

Für neue Nutzung zu alt, als Denkmale noch zu jung: Die Bauten der sechziger Jahre sind in Berlin unbeliebt, und die der DDR ganz besonders  ■ Von Wolfgang Kil

Nun hat es das ehemalige SED-Gästehaus unweit der Jannowitzbrücke erwischt. Der 1968 gegenüber dem Märkischen Museum errichtete Bau wurde seit 1993 als Hotel betrieben, und dies nicht ohne Erfolg. Genutzt hat es dem Haus nichts, jetzt soll es nach Plänen der Hanseatica-Immobiliengesellschaft einem Wohn- und Geschäftsquartier weichen. Als Begründung muß wieder das süffisante Klischee vom „Plattenbau- Charme“ herhalten, obwohl es sich diesmal um eine klassische Skelettkonstruktion mit Natursteinfassade handelt. DDR ist eben „Platte“, was soll's.

Davor war das Hotel Berolina dran. 1961–63 nach Plänen von Joseph Kaiser errichtet, verschwand es aus dem denkmalgeschützten Ensemble zwischen Alex und Strausberger Platz. Nach langem Gerangel hatte die Denkmalbehörde klein beigegeben, unter der Auflage, daß das neue Gebäude dem alten in Höhe, Länge und Farbe ähnlich sein solle. Nun wird aus dem ehemals blauen Dreizehngeschosser mit lauter Gästezimmerchen ein blauer Dreizehngeschosser mit lauter Bürozimmerchen. Das Rathaus Mitte soll bereits als Haupt- und Dauermieter unter Vertrag sein.

Anfang des Jahres war das vom gleichen Architekten 1964–67 gebaute Außenministerium abgerissen worden. Während Denkmalschützer für das Staatsratsgebäude intervenierten (mit Erfolg) und Bürgerinitiativen bis zur Erschöpfung für den Erhalt des Palastes der Republlik agitieren (mit immer weniger Erfolg), wurde die Zertrümmerung des dominanten Gebäuderiegels jenseits der Spree erstaunlich reaktionslos hingenommen. Nun ist er weg, doch am wiedergewonnenen Blick zur Friedrichwerderschen Kirche können sich nur hartgesottene Stadtbildästheten erfreuen; der normale Stadtwanderer steht ernüchtert vor der bescherten Brache und fragt sich, warum eine gähnende Leere für das erschütterte Stadtgefüge heilsamer sein soll als die eben beseitigte Gebäudebarriere.

Der Furor, mit dem aus der Mitte Berlins eine ganze Bauepoche getilgt werden soll, hatte unweit des Pariser Platzes seinen Anfang genommen. Die Bundesbaudirektion übernahm die dort gelegenen Ministeriumsbauten der DDR, und flugs wurden die vormals strengen Rasterfassaden aus Beton durch Steinplattenverkleidungen aus dem Repertoire „Schöner unsere Sparkassen und Einkaufspassagen“ ersetzt. Wie die abstrakt-seriellen Bauprinzipien der sechziger Jahre ästhetische Bekenntnisse waren – weniger zum Sozialismus als vielmehr zur Industriemoderne –, halten nun auch die Ergebnisse des derzeitigen Facelifting eine Botschaft parat: die Rückkehr zu vormodernen Repräsentiergesten und zum Pathos gutbürgerlicher Provinz. Wir sind wieder wer!

Als nun unlängst ein Wettbewerb für die Umbauung der Komischen Oper ausgeschrieben wurde, schlugen die Denkmalpfleger Alarm. Sie befürchteten, daß dem „Opernforum“ auch noch das sogenannte „Funktionsgebäude“ Unter den Linden zum Opfer fallen würde. Jene langgestreckte Ladenstraße war Mitte der sechziger Jahre entstanden. Wie es in der Stellungnahme der obersten Denkmalbehörde heißt, sollte sie „die Leistungsfähigkeit und Modernität, wenn nicht gar die Überlegenheit des DDR-Bauwesens vorexerzieren“. Nicht weil er unbedingt einen Schönheitspreis verdiente, aber weil er die Option eines alsbald begrabenen architektonischen Ideals verkörpert, steht der Bau Unter den Linden heute unter Denkmalschutz.

Daß der „Opernforum“-Wettbewerb für das Funktionsgebäude überhaupt „Umbau bei Erhalt der konstruktiven Struktur“ forderte, hatte indes ziemlich profane Gründe: Würde der lange Block vollständig abgerissen, träten die alten Besitzansprüche wieder in Kraft, und die Investoren hätten, statt allein mit dem Senat, plötzlich mit mindestens vier Alteigentümern zu verhandeln. Da es schließlich an „überzeugenden Lösungen“ für eine „Überformung“ des geschützten Betonskeletts mangelte, bleibt dem Linden-Boulevard bis auf weiteres ein prägnantes Stück Arbeiter-und-Bauern- Architektur erhalten.

Doch halt, gegen die DDR als geschmacksverirrten Bauherren scheint es gar nicht zu gehen. Die Stalinallee wurde ja in den Rang eines nationalen Baudenkmals erhoben. Für eine „ästhetische Korrektur“ des verkitschten Nicolai-Viertels (1984–87) erhebt sich ebensowenig eine Stimme wie gegen die formale Entgleisung des Friedrichstadtpalastes (1982–84).

Nur das Lindenhotel (1966) soll weg, genauso wie das „Ahornblatt“ (1969), jene Gaststätte mit dem aufschwingenden Schalendach auf der Fischerinsel. Mit dem Alexanderplatz in seiner jetzigen Fassung von 1964–72 machten die Teilnehmer am Wettbewerb vor zwei Jahren gleich als Ganzes kurzen Prozeß. Sogar die Vorzeigebauten der Nachkriegsmoderne im Westen – vom Bikini-Haus an der Budapester Straße bis zu Düttmanns Ku'damm-Eck – stehen zur Disposition. Doch für die Leute im Osten ist das kein Trost. Sie haben bis heute nicht den Verlust ihres Lindencorsos (1964–67) verwunden. Dabei trauern sie wohl weniger dem blaugläsernen Würfel nach als dessen mit Kaffeeterrassen, Blumenrabatten und Springbrunnen geschmückten Vorplatz. Mit dem war die wichtigste Kreuzung der Stadt überhaupt erst einmal zum Corso gemacht worden: Tout monde traf sich hier, um zu sehen und gesehen zu werden. Jetzt füllt Christoph Mäcklers abscheulicher Riffelbeton-Neubau das einst legere Schlenderrevier.

Spätestens am „Fall Lindencorso“ wurde deutlich, daß Berlins Kritische Rekonstruktion mehr ist als nur ein restaurativer Bilderkrieg. Die Revision der Moderne im Stadtbild begnügt sich nicht mit der Retusche als zu langweilig und zu kalt empfundener Fassaden (zumal Langweiligkeit und Kälte ja geradewegs zu Markenzeichen auch der neuen Berliner Steinbaukunst geworden sind). Um die Architektur einzelner Gebäude geht es überhaupt nur am Rande, in Wirklichkeit geht es um viel mehr.

Seit der „Wende“ wurde das gesamte östliche Zentrum auf einen Schlag eigentumsrechtlich neu verteilt. Das ist ein Vorgang, dessen folgenreiche Wucht nur mit der Enteignung in den ersten Nachkriegsjahren vergleichbar ist. Heute wie damals haben die Akteure weitgehend freie Hand, ihre Vorstellung von Stadt klar und in eindrucksvollen Dimensionen Realität werden zu lassen. Heute wie damals werden nicht nur einfach Investitionen getätigt, sondern es wird im Wortsinne Städtebau, konkret: Umbau der Stadt betrieben. Das ist es, was wir derzeit im Osten erleben: die Korrektur der nach den Prinzipien der Moderne gestalteten Stadt. Die sollte nach den Visionen ihrer Protagonisten funktionell geplant (vernünftig), großzügig gegliedert (festlich) und auf gleichberechtigte Teilhabe aller bedacht (egalitär) sein. Dieses wohlmeinend verschwenderische und von der Utopie universeller Machbarkeit beseelte Leitbild ließ sich dort am besten umsetzen, wo privater Bodenbesitz keine Rolle spielte; deshalb sind vor allem sozialistische Städte von Planungsprinzipien der Moderne so nachhaltig geprägt.

Aber mit den Wachstumskrisen der achtziger Jahre kam das Projekt der Moderne weltweit in Kritik; der Bankrott des Realsozialismus brachte es obendrein ideologisch in Verruf. Die neuen Bauherren, die soziale Spaltung als Naturgesetz hinnehmen und Stadt nicht als Alltagsort ihrer Bürger, sondern als Renditeerwartungsland begreifen, stehen nun vor einem Nachlaß, in dem es eher um Sein denn um Haben ging. Ein solches Erbe muß heute als hoffnungslos unpraktisch gelten und daher zur Gewinntauglichkeit erst einmal gründlich umgekrempelt werden. Das Mokieren über die „billigen“ Fassaden dient dabei nur der Rechtfertigung; entscheidend ist der Rückgewinn jedes einzelnen, damals an die Öffentlichkeit „verschenkten“ Quadratmeters Boden. Nicht zuletzt an der überaus dicht überbauten Friedrichstadt zeigt sich ja, daß dem in Berlin gerne beschworenen Leitbild der „europäischen Stadt“ ein Mißverständnis zugrunde liegt. Deren entscheidende Qualität ist nämlich nicht in der drangvollen Enge ihrer Straßen und Plätze zu finden, sondern in deren Charakter, öffentlicher Raum zu sein. So gesehen, entsprachen die ganz andersartigen Stadtfiguren der Moderne den Idealen der „europäischen Stadt“ sehr viel eher als die möglichst schon bis zur Bordsteinkante privatisierte City heutiger Machart.

Es sind also die Inhalte, die die Form in Verruf bringen: Wenn das Bodenpreisdiktat der Eins-a-Lagen dazu zwingt, ganze Zentrumsviertel für eine zahlungskräftige Klientel zu reservieren und dafür anderen Bewohnerschichten unmißverständlich klarzumachen, daß sie mit dieser Art Citylife nicht gemeint sind – dann können auch einzelne architektonische Relikte der Moderne nur im Wege sein. Denen ist nämlich das Ideal stadtbürgerlicher Gleichheit buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Und damit geben sie in den Verteilungskämpfen der neoliberalen Modernisierung schlicht das falsche Signal.

Der Architekturkritiker Wolfgang Kil schrieb in der taz zuletzt über die neue Messe in Leipzig