Kriminalität, Kult, Kritik

■ Was in der radikal eigentlich drinsteht

So viele Bekenntnisse, soviel guter Wille. Aber was ist drin in und dran an der radikal? Sechs Mark kostet das Heft mit dem Sternchen überm kleinen i, und dafür bietet es in der neuesten Nummer 154, Juni 1996, 100 Seiten Stoff. Verschiedene Gruppen melden sich zu Wort, darunter die „autonome a.f.r.i.k.a.-Gruppe“, die radikal-„VerteilerInnen Combo Karies“ und die „Autonome Antifa M“.

Traditionelles Schnippellayout mit Calvin & Hobbes-Comicstrips, Fotos zum Thema oder revolutionären Lieblingsmotiven der Bewegung lotst den Blick der Leserin durch die Bleiwüsten. Erster Schwerpunkt des Juni-Hefts sind Medien und Kommunikation. Die Pressefreiheit wird als bürgerlicher Begriff kritisiert, die Manipulationsmacht der Medien stark angezweifelt und die Strategie der „Gegenöffentlichkeit“ von allen Seiten beleuchtet.

Seit kurzer Zeit ist im World Wide Web nicht mehr nur die November-Nummer des vergangenen Jahres einzusehen, sondern auch ein großer Teil der neuen Ausgabe. Die radi stellt dar, warum sie sich mit den elektronischen Medien gemein macht und damit die Kommunikation weißer mittelständischer Männer unterstützt: Immerhin hat die Bundesanwaltschaft keinen Zugriff auf die Texte im World Wide Web.

Die Beiträge im Juni-Heft sind gewohnt parawissenschaftlich; aus dem Vokabular schauen die Studienfächer der AutorInnen hervor. Zitiert werden Umberto Eco, Michel Foucault und Zygmunt Baumann: Die Literatur der Postmoderne hat bei der radikalen Linken Einzug gehalten. Die Leitbegriffe Antikapitalismus, Antisexismus, Antirassismus werden mit einer Riesenportion Selbstkritik vermengt, denn auch die LeserInnenschaft der radikal besteht nicht aus den Unterdrückten dieser Welt.

Ein weiterer Brennpunkt für Debatten sind Islam und der Nahe Osten. Ein Beitrag „Aus der Post“ und ohne Absenderin befaßt sich mit dem – häufig unterstellten – Antisemitismus der Revolutionären Zellen (RZ) und anderer Gruppen, die sich hinter den palästinensischen Widerstand gegen den Staat Israel gestellt haben.

Eine Frauengruppe schildert ausführlich und mit vielen Quellen die Situation kurdischer Frauen sowie die Geschichte der „Roten Zora“, die vor einem Jahr mit einem mißglückten Sprengstoffanschlag auf eine Bremer Werft auf die deutschen Waffenlieferungen in die Türkei aufmerksam gemacht hat. Die Anti-Imperialistische Zelle „aiz“, die in ihrer jüngsten Veröffentlichung die Widerständigkeit des Islam angepriesen hat, wird zum wiederholten Male angegriffen.

Den Vorwand der Bundesanwaltschaft für die Razzien dieser Woche lieferten in Sachen „Werbung für eine terroristische Vereinigung“ die Beiträge „Frauen in Kurdistan – Rote Zora“ sowie das Bekennerschreiben von „Klasse gegen Klasse“ zu einem Anschlag auf das Haus von Klaus Adomeit. Beanstandet wird auch, daß die Aktionsgruppe „Flammende Herzen“ mit ihrem „Leitfaden zur Behinderung von Bahntransporten“ zu Straftaten anstiftet. Ulrike Winkelmann

„... weil ich radikal lebe!“ Birgit Bauer, 23, Studentin und bei Cafe & Buch

„... wenn ich endlich herausfinden würde, wo ich sie bekommen kann“: Sebastian Scheerer, 45, Professor für Kriminologie Uni Hamburg

„... weil sie nicht so langweilig ist wie die Berichte des Hamburger Verfassungsschutzes“: Sven-Michael Veit, Redaktionsleiter taz hamburg

„... weil meine Eltern sie im Abo haben und ich Fortsetzungsromane so liebe“: Doro Wiese, 26, Studentin und bei der Hamburger Frauen Zeitung

„... weil dahinter kluge Köpfe stecken“: Andreas Bachmann, GAL-Bürgerschaftsfraktion

„... weil was verboten ist, gerade Spaß macht“: Sabine Gauger, 54, Hausfrau

„... weil es so viele soziale, gesellschaftliche und politische Themen gibt, die es erfordern, radikal zu denken, zu handeln und zu lesen“: Michael Herrmann, 50, Geschäftsführer der Lerchenhof-Genossenschaft

„... weil sie für ein Stück Pressefreiheit steht“: Mahmut Erdem, 32, Rechtsanwalt

„... weil ich für eine radikale Veränderung bin und dafür mehr als die PDS nötig ist“: Dirk Prösdorf, 29, AG Junge GenossInnen, PDS

„... weil das ein weiterer blindwütiger Schlag eines abgestumpften Systemsauriers ist, der ihn selber treffen wird. Der positive Aspekt der Razzien ist vermutlich ein großer Prominenz- und Auflagenschub“: Rocko Schamoni, Musiker und Gastronom

„... wegen der subversiven Aneignung medialer Kompetenz für die transversale Immerwiederneu-Zusammensetzung des Bewegungssubjektes“: Marcel Stötzler, 30, Sprecher des Bundesverbandes freier Radios

„... weil ich für Pressefreiheit bin“: Kay Franke, 30, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG/VK)

 „... weil kein Vertrauen in seine eigenen Argumente zu haben scheint, wer eine Zeitung wie die radikal verbieten will“: Alexander Porschke, GAL-Bürgerschaftsfraktion

„... weil ich großartige Dinge über sie gehört habe“: Ingo Böttcher, 31, Student und Journalist

„... weil mein Zeitungshändler es empfohlen hat und der Arzt auch keine Risiken und Nebenwirkungen festgestellt hat“: Oliver Neß, 28, Fernsehjournalist

„... auf Empfehlung der Bundesanwaltschaft“: Christian Arndt, 52, Pastor

„... weil nicht kriminell ist, wer radikal liest und schreibt, sondern wer dies verhindert. Wir lesen, was wir wollen!“ Simone Heller, Tina Fritsche, GAL

„... weil es noch nie so einfach war, Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu werden“: Elke Spanner, 29, Journalistin  

„... weil die Devise lauten muß: Im Zweifel für die Pressefreiheit und nicht für den Staatsschutz!“: Willfried Maier, Vorsitzender der GAL-Bürgerschaftsfraktion

„... weil mir Bild, Morgenpost und taz nicht genügend Lesestoff hergeben“: Günter Zint, 55, Fotograf

„... weil meine Eltern geschieden sind und ich Schwierigkeiten hatte, einen Ausbildungsplatz zu finden“: Hinrich Eberhardt

„... weil sie viel spannender ist als die Wirtschaftswoche“: Marco Carini, 33, taz-Redakteur

„... weil Lesen macht schlau!“: Hinrich Schultze, 42, Fotograf

„... seit meinem elften Lebensjahr – warum soll ich jetzt damit aufhören“: Jörn Breiholz, 28, Redakteur des Stadtmagazins „HH19“

„... weil für mich die Meinungsfreiheit ein sehr hohes Gut ist, das durch das Verbot von Zeitungen wie der radikal schwer geschädigt wird“: Dorothee Freudenberg-Hübner, GAL-Bürgerschaftsfraktion

„... weil ich für radikale Politik und für Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit bin. Da liefert die Zeitung wichtige Informationen“: Andreas Grünwald, 37, PDS-Landesvorstand und Bundesparteirat

„... weil linke Selbstbespiegelung so schön ist“: Ulrike Winkelmann, 25, taz-Volontärin

„... weil ich sie gerade von der Polizei frei Haus geliefert bekommen habe“: Johannes Santen, 42, Rechtsanwalt

„... damit ich meinem Sohn Hannes die Welt erklären kann“: Peter Gutzeit, 50, Geschäftsführer des Stadtmagazins „HH19“