Der Fortschritt schwankt und stolpert

Mechanische Cyborgs, phantastische Städte: Wie zeigt man alte Zukunft? Die Ausstellung „Wunschmaschine Welterfindung“ in der Wiener Kunsthalle dokumentiert die Geschichte der Technikbegeisterung aus drei Jahrhunderten  ■ Von Stephan Trüby

Joseph Paul Jernigan wurde am 5. August 1993 in Huntsville, Texas, wegen Mordes hingerichtet. Seine Leiche hatte er der Wissenschaft vermacht. Er wollte Gutes tun. Am 25. Januar 1994 begannen US-Mediziner, den tiefgefrorenen Leichnam Millimeter für Millimeter in Scheiben zu zerlegen und zu fotografieren, um daraus den ersten digitalen Anatomieatlas des menschlichen Körpers zu erstellen. Das Lehrstückwerk liegt nun vor. Auch im Internet, unter http:// www.nlm.hih.gov. Ein Luftgrab für den Kriminellen.

In der Kunsthalle Wien ist derzeit eine Computerinstallation Christian Möllers zu sehen, die auf dem Datenmaterial Jernigans aufbaut: „Voyage through the Human Body“ (1996). Sukzessive, von den Zehenspitzen bis zum Scheitel, geht die Reise durch den Mann. Sie markiert den vorläufigen Höhepunkt einer Öffnung des Körpers. Und die Klimax einer großangelegten Ausstellung – „Wunschmaschine Welterfindung“ thematisiert mit über 600 Exponaten eine „Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert“. Nahezu sämtliche Medien geben sich ein Stelldichein, Comics der vierziger und fünfziger Jahre etwa, Zeichnungen, Modelle, Videoprojektionen; auch kuriose Apparaturen aus den Asservatenkammern der Ingenieurwissenschaft sind versammelt, ebenso Werke von Künstlern wie Oskar Schlemmer, René Magritte und Panamarenko.

Für die Ausstellungsarchitektur sorgten Zaha Hadid und Patrick Schumacher. Wie zeigt man alte Zukunft? fragten sie. Wie bereitet man eine Entwicklung auf, die keine ist, die vor allem aus Brüchen, Versuchen und Irrlinien besteht? Hadid/Schumacher entwarfen ein labyrinthisch anmutendes Geflecht schräggestellter und gebogener Wandscheiben. „Man sieht den Fortschritt schwanken und stolpern“, so die Architekten. „Ohne vorgegebene Route darf man sich den Ariadnefaden selber ziehen.“ Freilich: Das Problem, gekippte Hängeflächen zu belichten, lösten die beiden nicht. Vielmehr ist „Wunschmaschine Welterfindung“ dunkel und verschattet geraten. Und daß ein Großteil der Bilder in Brust- und die Beschriftung in Bauchnabelhöhe fixiert wurden, muß am geheimen Konzept der Kuratorin Brigitte Felderer liegen.

Den Besucher erwartet eine beeindruckende Materialfülle. Skizzen zu Infanterieübungen und Heereskörpern visualisieren, wie vor allem seit der Französischen Revolution 1789 das soldatische Individuum in einen maschinell arbeitenden Menschenverband aufgelöst worden ist, der sich unter den Augen des Herrschers in eine penible Ordnung fügt. Auch die Architektur machte sich die Erkenntnisse aus der Kriegskunst zunutze und betrieb ihrerseits eine „Mechanisierung des Weltbilds“: Jeremy Benthams Panopticon- Rundling, 1791 als eine umfassend einsetzbare Überwachungsanstalt konzipiert, steht für einen herausragenden wie beklemmenden Versuch, das gebaute Haus als ein Medium des totalen Überblicks zu etablieren.

Auch die Architektur zeigt sich – gleichwohl positiver konnotiert – in den technik-euphorischen Utopien dieses Jahrhunderts als Maschine. Mit Ozeandampfern und Autos wies Le Corbusier 1922 in „Vers une architecture“ den Weg zu einer neuen Baukunst. Das funktionalistische Denken hat sich im Städtebau ebenfalls niedergeschlagen: Apparathaft wirkt mancher epochemachender Siedlungsentwurf aus den zwanziger und dreißiger Jahren. „Das Auto“, äußert Bart Loomtsma im empfehlenswerten Ausstellungskatalog, „wird zum Motor der Stadt“, die Stadt gar selbst beweglich: 1964 stellte Ron Herron mit seiner Londoner Gruppe Archigram die berühmte „Walking City“ vor – ein etwas britischer, will sagen: humorvoller Höhepunkt der Mobilhome- Sehnsüchte.

Zu Wasser, zu Lande, durch die Luft und in die Erde gingen Jules Vernes beliebte Phantasie-Expeditionen. Er erforschte auf Weltausstellungen den aktuellen Stand der Technik, um ihn in seinen Büchern allgemeinverständlich aufzubereiten. Gemeinsam mit Roman Signers „poetischen Raketenversuchen“, mit Gordon Matta- Clarks „Jacob's Ladder“ und diversen skurrilen Flugzeugmodellen präsentiert die Ausstellung einige der wichtigsten Illustrationen aus Vernes Büchern. Auch diese mitunter eindringlichen Fortschrittsbeschwörungen künden von der bemerkenswerten Weitsicht des Schriftstellers: Er hat die Monumentalisierung der Städte, die Informationsgesellschaft und das Zusammenschrumpfen der Distanzen vorausgedacht.

Dem Wunsch, in lebensfeindliche Gefilde zu reisen, korrespondiert der Wunsch nach einem technisierten und funktional aufgerüsteten Körper. Der Konzeption des Cyborg, des perfektionierten Organismus, gilt denn auch eine weitere gründliche Betrachtung von „Wunschmaschine Welterfindung“. Schon um 1715 entwickelte Chevalier de Beauve das Projekt eines Taucheranzugs, das mit Aquarellen in der Ausstellung dokumentiert wird. Weiter noch gehen die Bestrebungen, menschliches Leben künstlich zu produzieren. So illustriert unter anderem Wolfgang von Kempelens blasebalgbetriebene Sprechmaschine aus dem Jahre 1791 den alten Traum, einzelne Körperteile einer fragmentarisierenden Analyse zu unterziehen. Von dort ist es nicht mehr weit, auch den Menschen ins Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu befördern.

Bis 4. August 1996; Kunsthalle Wien. Katalog, 550 Seiten, Springer Verlag, 488 ÖS