Die überflüssige Aufrüstung des Staates

■ Die rechtspopulistische Politik der Inneren Sicherheit im Visier ihrer Kritiker

Das Jahr des Verbrechens war für die Bundesrepublik das Jahr 1975. Damals vor 20 Jahren zählte die Polizei über 1.500 Tötungsdelikte, etwa 400 mehr als im Schnitt der Jahre nach 1990. Nicht die Kriminalität ist in den neunziger Jahren in der Bundesrepublik rapide gewachsen, sondern die Kriminalitätsfurcht.

„Besonders in aufgeheizten Vorwahlzeiten schwindet das demoskopisch ständig gemessene Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung besonders stark“, stellt Herausgeber Rolf Gössner in der Einleitung des Sammelbandes „Mythos Sicherheit“ fest. Kriminalitätsfurcht wird geschürt, von Medien im Kampf um Quoten und Auflagenziffern, von Politikern, weil die Kombination Ausländer und kriminell immer noch am besten für rechtspopulistische Kampagnen taugt. Der Staat nutzt diese Furcht für die Aufrüstung seiner Sicherheitsapparate. Doch diese Hochsicherheitspolitik ist nicht einmal effizient, ist zu allerletzt ein Mittel gegen die „sogenannte Alltags- und Massenkriminalität, die den Bürger in Gestalt von Dieben, Einbrechern und Räubern besonders beunruhigt“.

Schindluder mit dem Bedürfnis nach Sicherheit treiben auch die „Sicherheitsapparate“ selbst, deren eigene „Sonderinteressen wesentlich die Sicherheitskampagne der Unions-Parteien bestimmen“, wie der hannoversche Politologe Jürgen Seifert im ersten seiner zwei Beiträge für das 512 Seiten umfassende Buch schreibt. „Den Begriff ,organisierte Kriminalität‘, der etwa ein Drittel des Strafgesetzbuches umfaßt“, nennt Seifert ein „Feindbild“.

Bundeskriminalamt, Bundesverfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst benutzen dieses Feindbild, um untereinander konkurrierend für sich neue Befugnisse zu reklamieren: den Großen Lauschangriff (BKA), die Vorfeld-Beobachtung (VS), das automatische Abhören von Auslandstelefonaten (BND). Diese neuen Befugnisse greifen in Grundrechte der Bürger ein, erodieren die Demokratie. Dabei fragt niemand, was eigentlich die neuen, technisch aufwendigen Überwachungsmethoden kosten und ob die großen Sicherheitsapparate damit oder überhaupt die modernen Formen der Schwerkriminalität eindämmen können. BKA, BND und VS inszenieren selbst Sicherheitskampagnen über die Medien, um ihre Organisationen vor dem Personalabbau zu schützen, der nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Scheitern des Terrorismus längst überfällig ist.

Mehr noch als die neuen Überwachungsbefugnisse bedrohe das Machtgebahren der Sicherheitsapparate die Demokratie, die die Apparate doch eigentlich schützen sollen, lautet Seiferts Fazit.

„Der hilflose Schrei nach dem starken Staat“, lautet der Untertitel des Sammelbandes, in dem sich nach Seiferts und einem zweiten einleitenden Aufsatz zur realen Kriminalitätsentwicklung 33 weitere Beiträge finden. Der zweite und dritte Teil des Buches beschreibt detailliert den Rüstungswettlauf zwischen dem Staat und der modernen Schwerkriminalität, nimmt dessen verheerende Wirkungen für das Rechtsstaatsgefüge in den Blick, beschreibt die fortschreitende Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten und die gerade Ausländer treffende, ausufernde Überwachung.

Unter den 28 Autoren finden sich keineswegs nur Wissenschaftler, Kriminologen, Verfassungs- und Polizeirechtler. Das besondere an diesem Band ist, daß auch kritische Praktiker aus Polizei, Justiz und Innenverwaltung zu Wort kommen, linke und liberale Fachleute, die Widerspruch zur irrationalen, auch ineffizienten Aufrüstung des Staates anmelden und die Sicherheitsapparate für reformbedürftig halten.

Aber bei der Kritik an dieser Aufrüstung und an der politischen und medialen Dramatisierung der Gefahrenlage bleibt das Buch nicht stehen. Die Autoren nehmen schwindendes Sicherheitsgefühl und objektive Sicherheitsprobleme durchaus ernst. Sie widmen sich auf immerhin knapp 200 Seiten der praktischen Frage: Was tun angesichts der Sehnsucht nach dem starken Staat? Dieser Teil des Buches will ein verfassungs- und sozialverträgliches Gegenmodell zum Marsch in den Sicherheitsstaat entwerfen und greift dabei auf Reformansätze zurück, wie sie vor allem unter rot-grünen Landesregierungen in der Diskussion waren und sind.

Polizeireform, Umbau und Entkriminalisierung des Strafrechtssystems, Haftvermeidung, Drogenabgabe als Alternative zum erfolglosen Drogenkrieg, kommunale Präventionsräte lauten ihre Stichworte. Dabei wird klar, daß sich dem plumpen Ruf nach dem starken Staat nicht mit ebenso simplen Patentrezepten begegnen läßt. Alle Autoren wollen dabei durchaus sozial integrativ Kriminalität eindämmen, reden aber nicht der „rechten Utopie einer kriminalitätsfreien Gesellschaft“ (Seifert) das Wort. „Mythos Sicherheit“ ist kein einfaches Buch, aber ein wichtiges. Denn der nächste Wahlkampf kommt bestimmt. Jürgen Voges

Rolf Gössner (Hrsg.): „Mythos Sicherheit. Der hilflose Schrei nach dem starken Staat“. Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1995, 512 Seiten, 58 DM