Themen halten unsere Welt zusammen

Wir glauben, daß wir von den Medien manipuliert werden. Aber fast alles, was wir wissen – und auch daß sie uns manipulieren –, wissen wir aus den Medien. Niklas Luhmanns neue Studie räumt mit der „kritischen Medientheorie“ auf  ■ Von Niels Werber

Was haben Rinderwahnsinn, Flughafenbrände, Wirtschaftsgutachten, Kriegsgreuel und Madonnas Schwangerschaft gemeinsam? Sie gehören zu jenen Informationen über die Welt, die wir aus den Medien beziehen: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Wir trauen diesem Wissen jedoch nicht, sondern hegen einen generellen Manipulationsverdacht, „der aber nicht zu nennenswerten Konsequenzen führt“. Wo sollte man sich auch sonst nach unabhängigen Informationen umschauen, wenn nicht wieder im Gedruckten oder Gesendeten, den zweifelhaften Medien also? Mit diesem Paradox beginnt der Soziologe Niklas Luhmann sein neustes Buch über das „System der Massenmedien“.

Medien als System aufzufassen hat Tradition. „Film, Radio, Magazine machen ein System aus“, stellt Theodor W. Adorno 1947 in der „Dialektik der Aufklärung“ fest. Der Effekt dieses Systems sei „Massenbetrug“ im Dienste einer „Kulturindustrie“, die die Rezipienten mit den Standardprodukten aus der Massenfabrikation bediene. „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt.“ Reklame und Movies suggerieren den Konsumenten Differenzen, die nicht ihrem Selbst, sondern ihren „Einkommensgruppen“ entsprechen – mehr bleibe dem einst „einzigartigen“ Individuum nicht übrig, als Chrysler statt General Motors zu kaufen.

Diese Analyse, die hinter der Kulturindustrie ein Interesse an Nivellierung, Sedierung und Verschleierung vermutet, hat den Ton angegeben, nach dem die Medienkritik noch heute spielt. Eine Schwachstelle des zumindest selbstzufriedenen Ressentiments gegen das „System“ der Medien ist es, daß man keine Auskunft darüber erhält, wo man sich denn unabhängig von diesem System einen Standpunkt verschaffen könnte, von dem aus man die Realität der Welt derart unverstellt wahrnähme, daß der falsche Schein der Medien sofort ins Auge spränge. Der Medienkritiker scheint über geheime Ressourcen unmanipulierter Weltsicht zu verfügen – was von einem vagen Medienbegriff erleichtert wird: So zählt etwa Adorno „Kino, Radio, Jazz und Magazine“ zu den „charakteristischen Medien“ des Massenbetrugs, was ja immerhin die richtige Zeitung, Klassik und das gute (selbstgeschriebene?) Buch als unmanipulierte Information übrigläßt für das richtige Leben im falschen. Luhmanns Studie über die „Realität der Massenmedien“ bricht mit dieser Tradition der kritischen Medientheorie.

Seine Definition der Medien unterscheidet nicht gute (taz) von schlechten (RTL2), sondern die Verbreitung von Kommunikationen an unbestimmte Adressaten von der Interaktion unter Anwesenden. Theater oder Vorträge zählen also nicht zu den Massenmedien, da das Publikum anwesend ist, wohl aber Videobänder oder TV-Übertragungen, da deren Empfänger unbekannt sind. Die Abwesenheit des Publikums führt zu hohen Unsicherheiten (wer liest, hört, sieht dies überhaupt?), zugleich aber auch zu hohen Freiheitsgraden, da kein persönlich Anwesender Zwänge auferlegt. Da die Massenmedien ihr jeweiliges Publikum grundsätzlich nicht kennen (keine Umfrage ist aktuell, jede liefert nur Ergebnisse über bereits gesendete Sendungen und schon gelesene Zeitungen), sind sie „auf Vermutungen über Zumutbarkeit und Akzeptanz angewiesen“. Dies führt dann zu Fiktionen wie „Zielgruppe“, also zu Differenzierung (es gibt immer mehrere Zielgruppen) und Standardisierung (jede von ihnen gilt als homogen). Für die Finanzierung der Massenmedien genügt es, wenn die Marketingagenturen der Illusion anhängen, daß jede „Sendebereitschaft“ schon auf das rechte „Einschaltinteresse“ stoße.

David gegen Goliath

Wenn Luhmann von einem „System der Massenmedien“ spricht, dann meint er damit nicht den Moloch, den sich die Kritische Theorie unter dem System vorstellte, sondern eine Unterscheidung – nämlich die von System und seiner Umwelt. Umwelt bedeutet nun nicht verschmutztes Wasser oder grüne Auen, sondern eine von System generierte Weltsicht. Verschmutztes Wasser etwa wird vom Rechtssystem als Straftat wahrgenommen, von der Politik als Wahlkampfthema oder Anlaß für Gesetzgebung, von der Wissenschaft als Forschungsobjekt und vom Körper als Juckreiz. Es kommt auf die Perspektive des Beobachters an – nicht auf das „Wesen der Dinge“. Luhmanns Frage an die Medien lautet daher: „Wie konstruieren Massenmedien Realität?“ und nicht: „Wie verzerren sie die Realität?“

Die Form, die die Realität annimmt, hängt von den Unterscheidungen ab, die das System wie eine Brille oder einen Filter für seine Beobachtungen verwendet. Verschmutzte Gewässer erscheinen in der Perspektive des Wissenschaftssystems nur in Form von Proben, über die wahre oder falsche Aussagen gemacht werden können; ob die verseuchte Nordsee einer politschen Partei nützlich sein könnte oder gegen internationale Konventionen verstößt, ist kein Teil der Biochemie oder Meereskunde, sondern eine Frage der Politik oder des Rechts. Die Nordsee ist für die Medien nur ein Thema, wenn eine Nachricht über die Verschmutzung einen Informationswert hat. Sie muß informativ sein – gleichgültig ob wahr oder falsch, rechtmäßig oder nicht. Die Realität der Massenmedien ist das, was mit dem Code von „Information“ und „Nichtinformation“ beobachtet wird. Gesendet wird, was informativ ist – und dies ist in den Medien nur das Neue, Überraschende, Sensationelle. Und sobald die Information verbreitet ist, verwandelt sie sich zur Nichtinformation, die bei nochmaliger Sendung alt und langweilig erschiene (obgleich sie wahr oder rechtmäßig sein könnte). Zweitverwertung ist nur dann möglich, wenn alte News den neuen Neuigkeiten einen Kontext liefern – wenn etwa neue Verlautbarungen eines Politikers an alten gemessen werden. Dank des immensen Speicherplatzes der Medien können so Personen diskreditiert werden, deren Vergangenheit mit der Gegenwart in Konflikt kommt, oder es kann „die Trägheit politischer Apparate“ vorgeführt werden – siehe BSE. Man kann aber auch „falsche oder möglicherweise falsche Informationen bringen“, solange man nur „die Funktion im Auge behält und den Sensationswert gegen das Risiko möglicher Aufdeckung abwägt“ – siehe Brent Spar.

Hier kommt bei herkömmlichen (auch „kritischen“) Medientheorien der „Manipulationsverdacht“ auf. Auch Luhmann weiß, „es gibt keine Darstellung, der man aufs Wort glauben könnte“. Jedoch könne dies gar nicht anders sein, denn es gebe ja keine Welt jenseits der Massenmedien, deren Wahrheit die Medien nur richtig zu vermitteln hätten. Gewiß, manchmal kommt heraus, daß eine mediale Inszenierung „enthüllt“ wird. Aber in der Brent-Spar-Medien- Kampagne war es für die Moralisierung des Konflikts ohnehin unerheblich, ob verläßliche Daten über Altlasten im Plattformtank und deren Auswirkungen auf die Nordsee-Biosphäre vorhanden waren. Komplexe Gutachten sind nicht vermittelbar – und immer gibt es auch ein anderes Gutachten. Doch Aussagen wie „die Nordsee darf nicht zur Müllkippe werden“ stimmen immer – was auch die Wissenschaftler zum konkreten Fall sagen mögen. Wenn Ereignisse derart zu einer Serie verdichtet werden, über die laufend berichtet wird, dann geschieht dies mit der Hilfe von Schemata (David gegen Goliath, die Guten gegen die Bösen etc.), „deren Wirksamkeit in den Medien nicht, oder kaum, darauf angewiesen ist, daß sie durch die konkreten Umstände der Einzelfälle bestätigt werden“. Über spektakuläre Fälle falscher Berichterstattung wird wiederum berichtet – in der Fortsetzungsserie „Medienethik“ samt Wahrhaftigkeitsbekundungen und Schuldbekenntnissen.

Thema statt Konsens

Überhaupt wird gerne von „Normverstößen“ berichtet, auch über eigene, aber vor allem dann, wenn „ihnen moralische Bewertungen beigemischt werden können“. Normverstöße sind per definitionem informativ. Über Konformität wird dagegen nicht berichtet – es sei denn, die Erwartungserfüllung wäre schon selbst wieder außergewöhnlich wie der Diensteifer jenes japanischen Soldaten, der noch 30 Jahre nach Kriegsende ein Atoll im Pazifik bewachte. Dies alles kann man dann loben oder tadeln, ohne daß dadurch irgendwelche „kontrollierbaren Verpflichtungen“ entstünden. Eher führt die ständige Berichterstattung über „Normverstöße“ zur „Überschätzung der moralischen Korruptheit der Gesellschaft“. Ist also alles gar nicht so schlimm?

Die Massenmedien selektieren nur Neues und Sensationelles und blenden Konstanz oder Unspektakuläres ab. Sie vermitteln den Eindruck einer offenen und beinflußbaren, vielfach riskanten Zukunft in einer Erfahrungswelt, die im großen und ganzen so ist und bleibt, wie sie ist. Ihre Funktion sieht Luhmann in der Erzeugung von Kommunikationsvoraussetzungen, die nicht mehr mitkommuniziert werden müssen, sondern als bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Jeder weiß, was Brent Spar oder BSE ist, oder wird sich hüten zuzugeben, er wisse es nicht. Die Medien stellen gleichsam eine Hintergrundrealität bereit, die das leistet, was bei Habermas die Lebenswelt besorgt: Nämlich die Gesellschaft mit einem soliden Fundament zu versorgen, worunter Habermas gemeinsam geteilte Überzeugungen und Normen versteht. Bei Luhmann dagegen erzeugen die Massenmedien Stabilität, indem sie für die „Erzeugung von Objekten“ aufkommen, „die in der weiteren Kommunikation vorausgesetzt werden können. Es wäre viel zu riskant, sich primär auf Verträge oder auf normativ einforderbare Konsense zu stützen“. Man kann so auch bei Dissens weiterkommunizieren, wenn man weiß, welche Themen zur Debatte stehen; darüber aber halten uns die Medien auf dem laufenden.

In der erheblichen Irritabilität, die die Medien durch ihre Präferenz des Neuen und Abweichenden erzeugen, sieht Luhmann etwas geradezu Lebensnotwendiges. „Massenmedien steigern die Irritierbarkeit der Gesellschaft und dadurch ihre Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten.“ So werde eine allzu starke Bindung an etablierte Strukturen verhindert und Evolution wahrscheinlicher. Wohin diese führt, werden wir zuerst aus den Medien erfahren – falls es spektakulär genug sein sollte.

Niklas Luhmann: „Die Realität der Massenmedien“. Westdeutscher Verlag 1996, 219 Seiten, 24,80 DM