Lebenslang für Massaker an Kindern

■ In Brasilien muß erstmals ein Militärpolizist hinter Gitter. Menschenrechtler feiern das „historische“ Urteil

Rio de Janeiro (taz) – Nach einem Verhandlungsmarathon von 25 Stunden war es endlich soweit: Erstmals in der brasilianischen Rechtsgeschichte wurde am vergangenen Dienstag ein Militärpolizist für den Mord an Straßenkindern verurteilt. Richter José Geraldo Antonio vom II. Jurytribunal (2. Tribunal do Juri) in Rio de Janeiro sowie sieben Geschworene bestraften den Soldaten Marcus Vinicius Borges Emanuel mit 309 Jahren Freiheitsentzug für seine Beteiligung an der Exekution von acht Straßenkindern. Stattgefunden hatte das Verbrechen am 23. Juli 1993 in Rio. Der 29jährige Militärpolizist wurde für sechs Morde, fünf Mordversuche sowie drei schwere Körperverletzungen verantwortlich gemacht.

Der Militärpolizist Marcus Vinicius Borges Emanuel ist der erste Verurteilte von insgesamt acht Angeklagten, die vor drei Jahren vor der Candelaria-Kirche im Zentrum von Rio acht Straßenkinder im Schlaf erschossen haben sollen. Der Prozeß wird am 27. Mai fortgesetzt. In seiner Urteilsverkündigung unterstrich Richter José Geraldo Antonio die „Grausamkeit und Menschenverachtung“ des Verbrechens und entzog dem Soldaten das Recht, in Freiheit Einspruch zu erheben. Nach brasilianischen Strafrecht ist eine lebenslange Haftstrafe auf maximal dreißig Jahre Freiheitsentzug beschränkt.

Borges, der unmittelbar nach dem Massaker festgenommen wurde, sitzt mittlerweile seit drei Jahren in Haft. Menschenrechtsvertreter feierten das historische Urteil als ersten Schritt zur Bekämpfung der Straffreiheit uniformierter Mörder. „Wir hoffen, daß Prozesse dieser Art keine Ausnahme bleiben“, erklärte James Cavallaro von der Nichtregierungsorganisation „Americas Watch“ gegenüber dem brasilianischen Fernsehsender SBT.

Bildhauerin Yvone Bezerra de Melo, die verschiedene Gruppen von Straßenkindern betreut, setzt auf den Abschreckungseffekt: „Borges soll hinter Gittern verfaulen“, wünscht sie sich. In Zukunft würden sich Polizisten und Todesschwadrone die Exekution von Kindern dreimal überlegen, meint sie. Das Massaker vor der Candelaria-Kirche verursachte vor drei Jahren großes internationales Aufsehen. Doch die Jagd auf die jugendlichen Außenseiter ging indes unvermindert weiter. Nach Angaben des Jugendrichters von Rio, Geraldo Prado, kamen im vergangenen Jahr allein an der Copacabana insgesamt 695 Minderjährige gewaltsam ums Leben. Im Jahr 1994 wurden 666 jugendliche Todesopfer registriert. Von den Todesopfern waren 3,6 Prozent vorbestraft.

Nach einer Erhebung des „Instituts für wirtschaftliche und soziale Studien“, Ibase, aus Rio, nutzen rund 800 Jugendliche in der Sechs- Millionen-Stadt die Straße als Wohn- und Schlafplatz. Tagsüber jedoch verwandelten Tausende von Kindern aus den Elendsvierteln den Asphalt in ihren Arbeitsplatz.

Nach Angaben des offiziellen Statistikamtes IBGE stammen 40 Prozent aller Minderjährigen in Brasilien aus Familien, in denen pro Mitglied nicht mehr als umgerechnet 90 Mark im Monat zur Verfügung stehen. Fünf Millionen Menschen in Brasilien leben als Bettler unter der Armutsgrenze. Astrid Prange