■ Bettina Gaus, Afrika-Korrespondentin der taz, über Grenzen und psychische Folgen der Berichterstattung aus Afrika. Mit ihr sprachen Thomas Schmid und Ute Scheub
: „Die Opfer bekommen Gesichter“

taz: Du hast den Völkermord in Ruanda miterlebt, zumindest indirekt. Was hast du dort selbst gesehen? Und was haben diese Bilder mit dir gemacht?

Bettina Gaus: Zum Glück habe ich dort vergleichsweise wenig miterlebt. Ich bin durch die Dörfer gekommen, nachdem die Massaker schon geschehen waren. Ich habe Leichen im Fluß liegen sehen und viele Opfer in den Krankenhäusern, aber keine Leichenberge und Massaker. Leichen im Fluß – das war für mich nicht der schlimmste Anblick, denn die sind entpersonalisiert, sie haben keine Gesichter mehr. So etwas läßt mich inzwischen relativ kalt. Viel schlimmer sind andere Dinge: Ich habe neben einem Flüchtlingslager gewohnt, das ab 7 Uhr abends Ausgangssperre hatte. Drei Minuten nach 7 fielen die ersten Schüsse, und ich wußte: Jeder Schuß ist ein Treffer. Die Mörder wohnten neben meinem Fenster. Und am nächsten Morgen lag da eine schwerverwundete Frau, der jemand mit der Machete ein Bein abgehackt hatte, und niemand traute sich an sie heran. Eine Nonne sagte zu uns: Die Mörder stehen da hinten, wer ihr hilft, ist der nächste. Anderes Beispiel: Zu Beginn der Massaker lernte ich eine nette Hotelangestellte kennen. Zum Abschied umarmten wir uns: „Vielleicht wird ja alles gut.“ Und als ich das nächste Mal dort war, hörte ich, daß sie und ihre drei Kinder massakriert worden sind. Wenn die Opfer Gesichter bekommen, geht das an die Psyche. Die Kleinigkeiten sind es, die erschüttern.

Glaubst du, daß der Völkermord in Ruanda die Menschen aufgerüttelt hat?

Hat er nicht. Im Gegenteil. Der langjährige Präsident der „Ärzte ohne Grenzen“ hat in seinem Buch geschrieben: „Angesichts eines Völkermordes erklärte die Welt ihre Neutralität.“ Und jetzt will niemand in den Redaktionen mehr von Themen wissen, die etwas mit Gewalt zu tun haben, mit dem Argument: So schlimm wie in Ruanda ist es doch nicht. Burundi ist dafür ein gutes Beispiel. Dort gibt es seit langer Zeit einen schleichenden Bürgerkrieg mit Zehntausenden von Toten. Unsere Heimatredaktionen wollen immer wieder wissen: Wann explodiert es denn? Aber es wird nicht explodieren, es wird weiterhin in diesem Dorf 10 und im nächsten Dorf 15 Tote geben. Und so lange ist Burundi uninteressant. Ruanda hat das Desinteresse an Afrika verstärkt.

Wie kommt es, daß Verwandte und Nachbarn sich gegenseitig umbringen? Hast du jenseits des Hinweises auf verfeindete Ethnien eine Erklärung dafür, daß die Decke der Zivilität so dünn ist?

Nein, letztlich kann ich das auch nicht erklären. Manchmal, wenn ich stundenlang mit Freunden rede, die über ähnliche Erfahrungen verfügen, habe ich das Gefühl, mich einer Erklärung zu nähern. Aber in solchen Gesprächen, wie wir eines führen, kommt man über Schlagworte kaum heraus.

Wie gehst du, gehen deine Berufskollegen mit diesen Schreckensbildern um?

Die Umgehensweisen sind natürlich sehr unterschiedlich. Manche machen besonders zynische Witze jenseits aller Geschmacksgrenzen, andere werden sehr aggressiv, andere saufen. Kann ich alles gut verstehen. Ich fing Wochen später im Gespräch mit fremden Leuten plötzlich an zu heulen. Vor Ort passiert das nicht, da sind wir meistens recht diszipliniert. Mit Ausnahmen: In Goma ist der Pressesprecher einer großen Hilfsorganisation zusammengeklappt.

Hast du dich im Laufe dieser Erfahrungen verändert?

Ja. Als ich das erste Mal hungernde Babies in einem Krankenhaus in Mogadischu gesehen habe, rannte ich heulend raus und gab der Krankenschwester alles, was finanziell entbehrbar war. Inzwischen gehe ich sehr viel kälter durch sehr viel schlimmere Situationen. Ich bin insgesamt weniger mitfühlend. Das ist einerseits nötig, weil es die professionelle Distanz wahrt, andererseits frage ich mich: Bis zu welchem Grad finde ich das noch akzeptabel?

Nicht mehr akzeptabel finde ich, wenn sich der Zynismus in der Berichterstattung niederschlägt.

Aber wenn er sich nur in Gesprächen äußert, muß er schon extrem sein, damit ich ihn schlimm finde. Auch ich kann nicht jedesmal zu Beginn eines Gesprächs mit meinem Heimatredakteur drei Minuten Betroffenheit artikulieren.

Wo liegt die Grenze? In Haiti kam ein Mann zu den ausländischen Journalisten in einem Hotel gerannt: „Ich habe euch eine tolle Story zu verkaufen. Auf der Abfallhalde nagt ein karibisches Schwein an einem toten Baby.“ Sofort sprangen alle Journalisten in ihre Autos und zischten los.

Die Frage, wann beginnt der Voyeurismus, beschäftigt mich schon lange. Kurz nach dem Sturz des äthiopischen Herrschers Mengistu flog in Addis Abeba bei einer Plünderung ein Munitionsdepot in die Luft. Es lagen sehr viele grauenhaft verstümmelte Leichen herum. Ich sagte zu einem Fotografen: Wie schön, ich bin Schreiberin, ich kann mir diesen Anblick ersparen. Der protestierte heftig: Es ist eine Chronistenpflicht hinzugehen. Wir können heute noch nicht abschätzen, welche Wichtigkeit dieses Ereignis für die Zukunft des Landes hat. Der Mann hatte recht. Wir Schreiber können uns leicht darüber erheben, daß die Kameraleute loszischen.

Aber wo genau liegt die Grenze? Im bosnischen Zvornik hat ein Fotograf eine Erschießung abgelichtet: ein Foto, wie der Mörder die Pistole zieht, ein anderes, wie er abdrückt, ein anderes, wie das Opfer am Boden liegt. Er fotografiert und greift nicht ein.

Er kann nicht eingreifen! Ich bezweifle, daß ich als Fotografin in solch einem Moment auf den Auslöser drücken würde, aber ich weiß nicht, ob das eine besondere Qualität ist. Kameramann oder Fotograf zu sein ist in mancher Hinsicht viel schwieriger, als zu schreiben, solche Leute setzen sich noch viel größeren Gefahren aus als wir. Es waren Fotografen und Kameraleute, die in Mogadischu vom Mob umgebracht worden sind. Ich habe den Vorteil, daß man meinen Produkten nicht ansieht, ob sie moralisch einwandfrei zustande gekommen sind: Ich rede mit Menschen, die ich für grauenvolle Menschenrechtsverletzer halte, ich frage sie: Wollen wir mal ein Bier miteinander trinken, das finde ich so toll, was Sie erzählen.

Das Hauptproblem sehe ich darin, auf welche Weise man die Ereignisse aufarbeitet und welche Interessen oder innenpolitischen Klischees man dabei – absichtlich oder unabsichtlich – bedient.

Genau. Aber da wird es richtig schwierig. Ich kenne Kollegen, die gerne über Burundi berichten würden, aber es gibt keine Bilder der Ereignisse, sie sind unfilmbar.

Wie betrachtest du selber deinen Auftrag? Willst du Aufklärung betreiben?

Ich habe keinen missionarischen Anspruch.

Aber du willst doch über Zusammenhänge aufklären?

Das Wort Information ist mir lieber.

In unserer Mediengesellschaft ist es doch naiv zu glauben, man könne neutrale Informationen liefern. Die Wucht, mit der Medien wieder auf die Wirklichkeit zurückwirken, ist enorm. Das beste Beispiel ist Somalia: Die US-Medien machten im Warlord Aidid den Hauptfeind aus, und mit der Jagd auf ihn scheiterte der gesamte UNO-Einsatz. Nach dem Abzug der fremden Soldaten sah es in Somalia kaum besser aus als früher.

Sie haben Aidid an die Macht zurückgejagt, richtig. Aber das lag auch daran, daß zum spektakulären Beginn des UNO-Einsatzes journalistische Neulinge aus ihren Heimatländern eingeflogen wurden, die dann in sechs Stunden einen Hintergrundbericht zusammenzimmerten. Und man darf Journalisten nicht überfordern: Woher sollen wir mehr wissen als die Betroffenen oder die internationalen Entscheidungsträger? Deswegen sage ich auch: Ich möchte abbilden. Ich bin oft ratlos und hoffe, daß man das meinen Geschichten auch anmerkt. Wenn nicht, dann sind sie schlecht. Über Somalia zu schreiben war relativ leicht, da hatte ich einen klaren Standpunkt: Ich war gegen das Eingreifen der Amerikaner. Die Situation in Burundi kann ich wirklich nur abbilden.

In welcher Hoffnung?

In gar keiner. Es gibt so etwas wie Chronistenpflicht.

Die Weltöffentlichkeit hat damals dafür gesorgt, daß der Vietnamkrieg beendet wurde. Die bosnische Stadt Goražde wäre überrannt worden, wenn es den Aufschrei nach dem Massaker in Srebrenica nicht gegeben hätte. Vielleicht gibt es einen solchen Wendepunkt auch in Burundi?

Hoffentlich. Natürlich hoffe ich, daß Schreiben etwas bewirkt. Im Falle Somalia schrieb ich immer wieder, daß das Land Infrastruktur braucht, damit die Menschen bei Fortsetzung des Bürgerkriegs etwas zu verlieren haben.

Im Falle von Ruanda kann man aber doch klar formulieren: Wenn die dort recht einflußreichen Franzosen früher Druck auf die Hutu-Extremisten ausgeübt hätten, dann hätten sich die Massaker zumindest in dem Ausmaß verhindern lassen.

In Ruanda hätte es sicher einige Möglichkeiten im Vorfeld gegeben, weil die Fronten sehr klar waren. In Burundi habe ich vor zwei Jahren Möglichkeiten gesehen, jetzt nicht mehr.

Warum dann überhaupt noch Berichterstattung? Wir lesen hier jeden Tag von entsetzlichen Katastrophen in aller Welt und haben zwar jede Menge schlechtes Gewissen, aber keine Handlungsmöglichkeiten. Was ein bestimmtes Maß überschreitet, können wir nicht mehr verarbeiten.

Ich berichte nicht in der Absicht, zum Handeln zu veranlassen. Es gibt einen Informationsanspruch der Betroffenen und des hiesigen Publikums. Die leidende Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, daß ihr Leiden zur Kenntnis genommen wird, selbst wenn man keine Lösungen weiß.

Entsprechend viel erhoffen sich die Betroffenen von den Reportern des Westens.

Materielle Erwartungen sind eher selten. Den Menschen, die wir zu Gesicht bekommen, kann meistens auch durch Hilfsorganisationen geholfen werden. Das Problem ist eher folgendes: Es gibt aber ungeheuer viele Menschen, denen niemand helfen kann, weil sie in unpassierbaren oder umkämpften Gebieten leben. Mit den ideellen Erwartungen umzugehen ist schwieriger. Manche Menschen nehmen große physische und psychische Mühen auf sich, um über ihr Schicksal zu berichten, in der Hoffnung: Dann wird Deutschland aufwachen. Es fällt nicht leicht, ihnen zu entgegnen: Das glaube ich nicht. Dennoch bin ich sicher: Sie überschätzen zwar mich und die Bedeutung der taz, aber nicht die Rolle der Medien insgesamt. Die Kenntnis dessen, was Medien bewirken können, ist inzwischen auch in Afrika weit verbreitet – durch die Kurzwellensender. In Somalia bilden sich Trauben vor allen Teehäusern, weil man dort BBC hören kann.

Dennoch ist es wahrscheinlich immer noch herzlich wenig, was die Leute auf diese Weise über ihre eigene Region erfahren können. Die Medien sind ein Abbild der ökonomischen Macht, der Informationsfluß zeichnet den Fluß des Geldes nach. Wenn in Washington ein Eimer umfällt, sind die Korrespondenten sofort vor Ort, wenn in Zentralafrika ein Massaker stattfindet, wird das niemals jemand erfahren. Man kann wahrlich nicht behaupten, die Medien würden die Realität abbilden.

Es wäre aber auch sehr langweilig zu lesen, was sich jeden Tag in den 52 Ländern Afrikas tut. Zugegeben: Die Berichterstattung ist oft von zufälligem und willkürlichem Charakter. Aber vielleicht so willkürlich auch nicht. Natürlich ist es problematisch, über Somalia nicht mehr zu berichten, sobald die UNO abgezogen ist. Andererseits ist dort seitdem nicht mehr viel grundlegend Neues passiert. Und: Menschen brauchen Symbole, Komprimierungen von Realität.

Symbole? Afrika ist das Symbol des Elends.

Genau diesen Eindruck versuche ich zu vermeiden. Opfer brauchen ein Gesicht, auch Regionen brauchen ein Gesicht. Außerdem ist dieser Eindruck schlicht falsch. Die Hungersnöte in Afrika haben allesamt politische Ursachen – Bürgerkriege oder willkürliche Ziehung von Grenzen. Ich frage mich seit einigen Jahren, wie man Armut definieren sollte. Für mich ist jemand dann arm, wenn er oder sie keinen Zugang zu Nahrungsmitteln, keinen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung hat. Jemand, der in Deutschland von Sozialhilfe lebt und es sich nicht leisten kann, einen Kindergeburtstag auszurichten, der ist in meinen Augen deutlich ärmer als der kenianische Kleinbauer, der zwar kein Wasser und keinen Strom in seiner Hütte hat, aber in seine Gesellschaft voll eingebunden ist.

Die Probleme Afrikas sind jedoch unvergleichlich größer: Verwüstung, Versteppung, Aids, Schuldenkrise... Oder siehst du irgendwo einen Fortschritt?

Ich halte das Szenario, daß alles noch viel schlimmer wird, leider für das wahrscheinlichere. Auswege zu finden ist natürlich an den Afrikanern selbst. Wir müssen uns vor Paternalismus hüten. Unsere gutgemeinten Vorschläge können von außen nichts bewirken.