Das Recht auf Weltlichkeit

Der iranische Theologe Abdel Karim Sorush hat sich für die Trennung von Staat und Religion ausgesprochen. Ist er aber deshalb ein Dissident?  ■ Von Katajun Amirpur

Sieht so der iranische Luther aus? Die westlichen Zeitungen hatten die Schublade schnell geöffnet, in die sie Abdel Karim Sorush stecken konnten, nachdem er im Oktober in Teheran von islamistischen Hooligans lebensgefährlich bedroht worden war. Theologe der Aufklärung, Kant der persischen Kultur, Luther des Islam, solche Etiketten ließen ihn zum Aufsteiger unter den muslimischen Dissidenten des vergangenen Jahres avancieren. Ist er das?

Sorush scheint sich in dieser Rolle eher unwohl zu fühlen. Anläßlich einer Tagung zu Besuch in Deutschland, weit weg von den turbulenten Teheraner Ereignissen, wirkt er zwar ruhig, aber die zahlreichen Journalisten, die ihn im Berliner Haus der Kulturen der Welt mit Interviewwünschen bestürmen, irritieren ihn, wie er selbst sagt.

Abdel Karim Sorush ist ein Kind der iranischen Revolution und fordert heute, daß die Ideen, für die die Revolutionäre auf die Barrikaden gegangen sind, endlich in die Praxis umgesetzt werden. Der Mittfünfziger entstammt einer traditionellen iranischen Familie, einfach und sehr religiös. Anfang der siebziger Jahre ging er nach England, um Pharmazie zu studieren. Dort wurde er mit den Ideen Karl Poppers bekannt, die ihn entscheidend beeinflussen sollten. 1979 kehrte er in den Iran zurück und wurde bald zu einem der schillerndsten Protagonisten des revolutionären Diskurses. Im Fernsehen hatte er regelmäßige Auftritte, in denen er der Staatsideologie philosophischen Tiefgang verlieh. Ob er wirklich der Redenschreiber Khomeinis war, als der er zuweilen bezeichnet wird, kann kaum nachgewiesen werden. Tatsache ist, daß er von 1980 bis zu seinem Rücktritt vier Jahre später Leiter des Rates für Kulturrevolution war, einem Gremium, das zu Anfang der Revolution die Universitäten geschlossen hatte, um die Wissenschaften zu islamisieren. Nach seinem Rückzug aus der Politik widmete sich Sorush in der Teheraner Gesellschaft für Philosophie der Forschung und Lehre. Seine Bücher werden in hohen Auflagen verkauft, und zu seinen Vorlesungen über den Islam strömen noch immer Tausende von Studenten.

Die Affäre, die ihn im Ausland bekannt machen sollte, ereignete sich in Isfahan, wo er im Juni des vergangenen Jahres während eines Vortrages in der Universität von Randalierern, über deren Herkunft nichts bekannt ist, mit Stöcken und Steinen bedroht wurde. Einige Monate später, am 11. Oktober 1995, kam es bei einem Vortrag Sorushs über „Die Mystik bei Rumi“ in der Universität Teheran vor tausend Studenten erneut zu Ausschreitungen. Die Vorfälle hatten ihre unmittelbare Ursache in dem Vorwurf des Landesverrats, dem er seit seinem Vortrag in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn im Juni 1995 ausgesetzt ist. Weil bei dem Treffen keine Presse zugelassen war, berichtete der Bonner Korrespondent der iranischen Nachrichtenagentur, Sorush habe sich mit deutschen Politikern getroffen und Staatsgeheimnisse weitergegeben.

Seit Monaten wird Sorush deshalb in den iranischen Medien als westlicher Spion bezeichnet, obwohl er bereits mehrere Gegendarstellungen veröffentlicht und zu den Vorwürfen Stellung genommen hat. Zusätzlich hat er eine Klage angestrengt, sowohl gegen den Korrespondenten in Bonn als auch gegen die Zeitung Keyhan, die maßgeblich an der Kampagne gegen ihn beteiligt war.

Der eigentliche Grund für die Angriffe ist jedoch ein Aufsatz, den Sorush im Mai 1995 in der iranischen Zeitschrift Kiyan veröffentlich hat. Er wirft darin der schiitischen Geistlichkeit vor, sich in eine korrupte Institution verwandelt zu haben, die nur an der Bewahrung ihrer Privilegien interessiert sei. Die Machtfülle der Geistlichen habe dazu geführt, daß viele Studenten heutzutage aus materiellen und nicht aus ideellen Motiven die Ausbildung in den theologischen Hochschulen anträten. Nach Ansicht von Sorush dürfe die Religion nicht für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Damit stellt er das Monopol der Geistlichen auf die Interpretation der revolutionären islamischen Ideologie und des Willen Gottes in Frage. Seiner Ansicht nach muß ein religiöser Staat nicht notwendigerweise von Geistlichen gelenkt werden. Aufgaben des Staates sei es lediglich, die religiösen Gefühle der Gesellschaft zu respektieren und Sorge zu tragen, daß die Fehler des Schahregimes nicht wiederholt werden. Der Frage, ob er die iranische Gesellschaft säkularisieren wolle, weicht er aus. Sollte es zu einer Säkularisierung kommen, sagt er im Gespräch, sei einzig der „autoritäre Führungsstil der Geistlichen dafür verantwortlich“. Da der Mensch nicht wissen könne, was Gott wirklich von ihm erwarte, sei es besser, wenn Regierungen nicht für eine bestimmte Religion Partei ergriffen.

Der europäische Rationalismus könne der Weg sein, zu einem wissenschaftlichen Verständnis von Religion zu gelangen. „Wenn man eine wissenschaftliche Sicherheit hat, muß man die Interpretation der Religion modifizieren, um die beiden zu harmonisieren. Ich versuche bestimmte Theologen zu überzeugen, die Religion auf diese Weise zu interpretieren“, sagte er der französischen courrier international in einem Interview. Weil er sich in seinen Schriften offen als Schüler Karl Poppers zu erkennen gibt, meinen Teile des iranischen Klerus, aus ihm den liberalen Ungeist des Westens sprechen zu hören. Sorush sieht in einer solchen Kritik den Versuch, Demokratie und Menschenrechte mit dem Stempel „westlich“ zu versehen, um sie verwerfen zu können.

Sorush ist kein Fundamentaloppositioneller, der sich die Abschaffung der islamischen Republik zum Ziel gesetzt hat. Auch heute noch pflegt er vertrauliche Beziehungen zu einigen der ranghöchsten Vertreter der iranischen Regierung, unter anderem auch zu Präsident Rafsandschani. Seit er in das Kreuzfeuer der Kritik geraten ist, bildeten sich im Iran die eigenartigsten Koalitionen zu seiner Verteidigung. Daß er eine große Anhängerschaft an den Universitäten hat, war bekannt. So überraschte es wenig, als sich 7.000 Studenten bei einer Demonstration für ihn einsetzten. Aber Sorushs Thesen haben auch bei einem großen Teil der Geistlichkeit positive Resonanz gefunden. Vor allem jüngere Mullahs sind zu der orthodox-schiitischen Ansicht zurückgekehrt, daß der Islam sich nicht mit dem Staat identifizieren dürfe. Diese Auffassung war unter den schiitischen Geistlichen jahrhundertelang vorherrschend; erst Theologen wie Ajatollah Khomeini brachen mit der unpolitischen, quietistischen Haltung und forderten in den sechziger Jahren zunächst die Politisierung der Geistlichkeit und später dann die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ (velÛjat-e faqih).

Viele, vor allem konservative Geistliche haben sich immer gegen diese politische Theorie, die Anfang der achtziger Jahre zum grundlegenden Prinzip der iranischen Verfassung gemacht wurde, gewendet. Sie sind bis heute bei der Auffassung geblieben, daß es bis zur Wiederkehr des entrückten Mahdi, ideengeschichtlich dem jüdischen Messias vergleichbar, keine gerechte Herrschaft auf Erden geben könne. Die Studenten dieser Ajatollahs gehören heute zu den Anhängern Sorushs. Auch viele Intellektuelle, die Sorush nicht eben wohlgesonnen sind, weil er zu Beginn der Revolution als bedeutender Ideologe der Regierung in Erscheinung getreten war, sehen sich heute zu einem Schulterschluß mit ihm veranlaßt. Dasselbe gilt für herbe Kritiker seiner fachlichen, das heißt philosophischen Kompetenzen. Auch sie verteidigen ihn oder haben zumindest aufgehört, öffentlich seine Fähigkeiten in Frage zu stellen, weil sie seine politische Bedeutung erkannt haben.

Sorush ist Vertreter einer Richtung, die, obschon selbst islamistisch, das gegenwärtige System kritisiert und demokratische Rechte einfordert. Weil er auf der Grundlage von islamischen Traditionen argumentiert, kann er sich auch in Theologenkreisen Gehör verschaffen. Er schreibt nicht für ein europäisches Publikum, sondern für Iraner, deren Erfahrungen er kennt und in seine Theorien einbringt. Er lebt nicht entfernt von den aktuellen politischen Ereignissen, sondern weiß um soziale Probleme aus dem Alltag. Bedeutsam sind seine Aussagen, weil er sie gerade heute und im Iran selbst öffentlich formuliert – besonders neu oder originell sind sie dagegen nicht. Von der Wandelbarkeit der religiösen Erkenntnis haben schon Mohammad Ghazzali, Fayz Kashani und Muhammad Iqbal gesprochen, und das Monopol der Geistlichkeit auf eine einzige Lesart der Religion hat Ali Shariati weitaus radikaler in Frage gestellt.

Sorush ist ein wichtiger und vieldiskutierter, aber er ist nicht der einzige und vielleicht auch nicht der bedeutendste Denker des Iran. Ihn mit Luther und Kant zu vergleichen, verbietet sich aufgrund deren geistesgeschichtlicher Bedeutung. Außerdem schaden ihm solche Vergleiche mehr, als sie ihm nützen. Schon jetzt sind im Iran hämische Artikel zu lesen, in denen Sorush vorgeworfen wird, er stelle sich auf eine Stufe mit den größten Gestalten der abendländischen Geschichte. Sorush eignet sich nicht zum Vorzeigedissidenten der westlichen Medien.