Short Stories from New York
: Fremdartige Familienbande

■ Die USA sparen beim Schulwesen und investieren in schicke Baseballstadien

Das Kind in mir ist unglücklich. Es empfängt mehrdeutige Botschaften der Großen. Bald wird es – tretend, kreischend und entfremdet – zur nächsten Telefonzelle rennen und sie anstecken. Senator Bob Dole – der sich gerade mal wieder darüber ausläßt, die Medien seien für all unsere sozialen Übel verantwortlich – wird dem Film „Moneytrain“ die Schuld gegeben, weil da auch eine Telefonzelle angesteckt wird. Ich aber weiß, daß nur meine disfunktionale Familie dahintersteckt.

Es fing mitten in meiner kleinen Welt an, als Bürgermeister Giuliani erklärte, die Stadt sei so pleite, daß die Schullehrer zwei Jahre lang nicht mit Gehaltserhöhungen rechnen könnten (nicht einmal mit einem Inflationsausgleich). Na gut, dachte ich, kein Geld, keine neuen Spielsachen. Kapiert. Dann gönnte er sich und den anderen städtischen Spitzenfunktionären eine Gehaltserhöhung um 28 Prozent. Ressortleiter, die 110.000 Dollar verdienen, kriegen jetzt also 133.000 Dollar, während Schullehrer mit 25.000 bis 28.000 Dollar anfangen und im Schnitt auf 43.000 Dollar kommen. Das Kind in mir wurde wild, weil es sich natürlich mit den Schulkindern identifizierte – nicht nur wegen Mittelkürzungen im Schulwesen, denn das heißt weniger Reparaturen, weniger Schulbücher und größere Klassen. Und das zu einer Zeit, in der dem Erziehungsministerium zufolge 50 Prozent der amerikanischen Oberklassenschüler nicht wissen, was der Kalte Krieg war, und 60 Prozent nicht einmal einen blassen Schimmer von den Anfängen Amerikas haben. In den letzten zehn Jahren konnten 66 Prozent der Oberschüler in den unteren Klassen Frankreich nicht auf der Karte finden, fast die Hälfte wußte nicht, wann Eisenhower, Stalin und Roosevelt regierten oder wann die Atombombe abgeworfen wurde. Wenn also das Kind in mir an Giulianis Gehaltserhöhungen und -kürzungen denkt, dann ist das, als ob Papa und Mama auf eine Mittelmeerrundfahrt gehen, während ich auf meinem Nintendo-Gerät vom letzten Jahr sitzenbleibe, ohne Batterien.

Außerdem glaube ich, daß Giuliani überhaupt nicht zum Bürgermeister taugt – nicht, weil seine Politik gewissenlos oder kurzsichtig wäre; aber wenn sich jemand in aller Öffentlichkeit eine 28prozentige Gehaltserhöhung zusteckt, nachdem ganze zehn Tage zuvor die Lehrergewerkschaft per Abstimmung beschlossen hatte, das Einfrieren der Gehälter zu akzeptieren, dann ist er politisch zu dumm, um eine Stadt zu regieren.

Eine Woche später verkündete George Pataki, der Gouverneur des Staates New York, seine neue Politik zur Bekämpfung „der gewalttätigen Jugendkriminalität“. Ich dachte, das wäre ein Programm für bessere Ausbildung, gegen Drogenmißbrauch und für Schwangerschaftsverhütung. Aber es ist natürlich ein Gesetz, wonach es leichter wird, Dreizehnjährige als Erwachsene vor Gericht zu stellen, die Strafen für kriminelle Kinder zu erhöhen und Teenager über 16 in Gefängnisse für Erwachsene zu stecken (zur Zeit bleiben sie bis zu ihrem 21. Geburtstag in Jugendgefängnissen mit besseren sozialen Angeboten).

Pataki wird nicht die Bedingungen verändern, die zur Kriminalität führen, sondern die Teenager strenger bestrafen, wenn sie kriminell geworden sind. Dabei ist zu lesen (das Kind in mir kann lesen – es war in einer Privatschule), daß der Staat New York ohnehin schon die härtesten Gesetze gegen die Jugendkriminalität hat, und die Kriminalität ist trotzdem nicht gesunken. Wie sollen härtere Gesetze die Kriminalität senken können? Warum sind härtere Gesetze überhaupt eine prima Idee? Sie sind billiger, sagt Giuliani, und der Staat ist genauso pleite wie die Stadt. Weil Gefängnisse für Erwachsene weniger Rehabilitationsprogramme anbieten, sind sie billiger, und Pataki stellt sich vor, daß der Staat an jedem Kind, das aus einem Jugendgefängnis in ein Erwachsenengefängnis überführt wird, 15.000 Dollar spart. Die Landkreise, die an den Gefängniskosten beteiligt sind, sparen 40.000 Dollar bei jeder Überführung. Aber was werden Staat und Kreise, fragt sich das Kind in mir, die Verbrechen kosten, die diese Kinder begehen werden, wenn sie herauskommen, weil sie drinnen weniger Ausbildungschancen hatten? Und was wird es Staat und Kreise kosten, wenn sie Sondersteuern aufbringen müssen für die neuen Gefängnisse, die Pataki für die gestiegene Zahl jugendlicher Gefangener bauen will?

Wenn ich schon dabei bin, was wird es den Staat kosten, wenn er nach Patakis Plänen 500 Millionen Steuerdollars in die Renovierung des Yankee- Stadions steckt, während er die Mittel für das Schulwesen und die Rehabilitation jugendlicher Strafgefangener zusammenstreicht? Auch der Gouverneur von Michigan, ebenfalls ein sozialleistungsfeindlicher Republikaner, kratzte 90 Millionen Dollar für ein neues Stadion für die Detroit Tigers zusammen. Die Tigers gehören Mike Ilitch, dem mehr als millionenschweren Gründer und Besitzer von Little Caesars Gefrierpizza, einem etwas ungewöhnlichen Kandidaten für öffentliche Subventionen. Michael Lowry, der Gouverneur des Staates Washington, gibt 32 Millionen Steuerdollar für ein Stadion der Seattle Mariners. Das Kind in mir kriegt den Eindruck, das wäre ja so, als ob Mama und Papa das Haus renovieren, nur ich sitze im Keller mit einer Taschenlampe, ohne Batterien.

Jetzt will das Kind in mir nur noch eins wissen: wenn so viel Geld für Gefängnisse und Stadien ausgegeben wird, wer soll dann noch für die Therapie bezahlen, die die Amerikaner brauchen, um die Großen zu verstehen? Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen

von Meino Büning