Gilles Deleuze ist tot. Der französische Philosoph, der auch in Deutschland berühmt wurde mit seinem Hauptwerk "Anti-Ödipus", stürzte sich am Samstag in Paris aus dem Fenster. Deleuze war ein populärer Denker, der politische Theorie, Psycho

Gilles Deleuze ist tot. Der französische Philosoph, der auch in Deutschland berühmt wurde mit seinem Hauptwerk „Anti-Ödipus“, stürzte sich am Samstag in Paris aus dem Fenster. Deleuze war ein populärer Denker, der politische Theorie, Psychoanalyse und Filmtheorie miteinander verband

„Möglichkeiten – oder ich ersticke“

Welch ein fürchterlicher Tod: Gilles Deleuze, einer der großen philosophischen Köpfe unserer Zeit, hat sich am Samstag aus dem Fenster seiner Wohnung in Paris gestürzt. Aus dem Kreis seiner Angehörigen ist zu vernehmen, daß Deleuze, der im Januar 70 geworden war, seit Jahren unter einer quälenden Lungenkrankheit litt. Vor kurzem erst hatte er sich einer Lungenoperation unterziehen müssen, die offenbar keine Erleichterung brachte. Nun hat er seinem Leiden ein Ende gesetzt. Da er kein Mann der großen Gesten war, darf man vermuten, daß ihn eine akute Attacke von Atemnot dazu trieb, in den Tod zu springen.

Dennoch gehen die Exegeten bereits daran, das Werk von Gilles Deleuze nach suizidären Motiven zu durchkämmen. Wenn ein Philosoph stirbt, in dessen Werk das Thema des „guten Lebens“ eine Rolle gespielt hat – und wenn er erst auf eine sogenannte „unnatürliche“ Weise stirbt –, dann ist das intellektuelle Klatschbedürfnis verständlicherweise groß. Als Michel Foucault an AIDS starb, als Roland Barthes vor dem Collège de France überfahren wurde, hat man schon dieses Spiel der Sinngebung des Sinnlosen gespielt. Im Hauptwerk von Deleuze, dem zusammen mit Félix Guattari verfaßten „Anti-Ödipus“ von 1972, findet man, siehe da, auf der ersten Seite bereits, wo von den „Organmaschinen“ die Rede ist, auch die „Atmungsmaschine (Asthma-Anfall)“ erwähnt. Und wie liest sich nun der gegen Freud gerichtete Satz, es sei „absurd, von einem Todeswunsch zu sprechen, der in qualitativer Weise sich von den Lebenswünschen abheben sollte. (...) Der Tod ist ein Teil der Wunschmaschine“? Die Versuchung, einer Verzweiflungstat mit ein paar Zitaten die Chronik eines angekündigten Todes unterzuschieben, ist gerade bei Gilles Deleuze groß, dessen Denken um das Ereignis, die Abweichung, den Möglichkeitssinn kreiste. Wenn man aber schon Krankheit und Tod von Gilles Deleuze als Metapher seines Werks lesen will, wie es wohl in solchen Situationen unvermeidlich ist, dann sollte man sich vielleicht an die Formel halten, in der er rückblickend den Mai 68 zusammenfaßte: „Möglichkeiten – oder ich ersticke...“

Lassen wir das. Gilles Deleuze kann man ohne Übertreibung den vielseitigsten Philosophen unserer Zeit nennen. Seine Arbeiten reichen von klassischen Themen der Philosophiegeschichte – er hat inspirierende Studien über Spinoza, Kant, Nietzsche, Bergson und Hume vorgelegt – bis zur Filmtheorie, zu Literaturanalysen (über Proust, Kafka, Fitzgerald) und zu Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Psychoanalyse und politischer Theorie („Anti-Ödipus“ und „Tausend Plateaus“).

Es ist angesichts der Anerkennung, die Deleuze in Frankreich, aber auch in Amerika längst genoß, frappierend, wie sein Werk in Deutschland Stück für Stück angeschwemmt wurde. Die über dreißig lieferbaren Titel sind auf sechs Verlage verstreut. Und ohne das Engagement des Berliner Merve Verlages wären die zahlreichen kleinen Schriften zur Politik und zur Krise der Intellektuellen nach dem Scheitern des Mai 68 wohl nie an die deutsche Öffentlichkeit durchgedrungen. Daß Deleuze' Interventionen in der Schlichtheit der Merve-Bändchen daherkamen, hat wohl nicht wenig dazu beigetragen, daß man sie als eine Art Flaschenpost las. 1977, als die Linke zwischen dem „Marsch durch die Institutionen“ und der absehbaren Katastrophe des „bewaffneten Kampfes“ zerrieben zu werden drohte, erschien ein kleiner Band mit dem programmatischen Titel „Der Faden ist gerissen“. Hier waren Beiträge versammelt, in denen Michel Foucault und Gilles Deleuze neue Strategien erprobten, nachdem der „theoretisierende, repräsentierende Intellektuelle“, der große Durchblicker, abgewirtschaftet hatte. In den achtziger Jahren erst fiel diese Rettung des Engagements auf fruchtbaren Boden. Hier wurde das Selbstverständnis der Intellektuellen auf die Höhe der Zeit gebracht, auf die Höhe der damals ein wenig zu euphorisch so genannten „neuen sozialen Bewegungen“. Was Wunder, daß Deleuze in der taz ein gerngesehener Gast war, während er in der Universität noch als Obskurantist und Irrationalist verschrien war.

Ohnehin war Gilles Deleuze immer auch ein populärer Philosoph, ein Theoriestar neuen Typs. Die Merve-Bändchen, die die Grundrisse seiner Gedanken selbst dem zerstreuten Kneipengänger zugänglich machten, hatten zwar nicht mehr Format und Gewicht der „blauen Bände“, aber einen ähnlichen Status als Volksausgabe und Tankstelle subversiven Wissens. Wer zwischen Parties, Lektürezirkeln und politischen Kleingruppen umherwanderte – ohne noch an die proletarische Weltrevolution als Aufhebung aller historischen Widersprüche zu glauben –, der fand im Begriff des „Rhizoms“ eine taugliche Beschreibung seiner eigenen Bewegungsform: nomadisch, labyrinthisch, parteilos, jenseits der großen Entwürfe; und wer die knapp 60 Seiten des „Rhizom“-Bändchens zu Ende gelesen hatte, wurde sogar mit einer Slogan-Version der deleuzeschen Philosophie belohnt: „Sät nicht, stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! (...) Laßt keinen General in euch aufkommen! (...) Seid der rosarote Panther, und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian.“

Ermunterungen wie diese stehen in der Tradition von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Keine Macht für niemand“, „Turn on, tune in, drop out“ oder schlicht „Do it!“ – weniger der Aussage nach, sondern weil Gedankenarbeit und Gesellschaftsanalyse hier den Mut finden, Handlungsanweisung zu werden, plakativ – und somit Pop. Man mußte den „Anti-Ödipus“ nicht wirklich gelesen haben, um in den achtziger Jahren, der Hochzeit der nichtuniversitären Deleuze-Rezeption, mitzureden beim großen subkulturellen Gespräch über Subversion, Körperpolitik, Wunschmaschinistentum. Und hatte Deleuze nicht selbst gefordert, man möge seine Theorien nutzen wie einen Baukasten mit verschiedenen Stimulanzien, Reagenzgefäßen und Denkkanälen?

Nein, das hier war mehr als Stoff für die Akademie – die tausend Plateaus von „Wunsch“ und „Begehren“ boten immer auch die Möglichkeit, Philosophie als unmittelbare Lebenskunst zu begreifen. Sie retteten die Vorstellung einer revolutionären Praxis, die freilich nicht mehr Klassenkampf war oder Ringen um die politische Macht, sondern Angriff der Nichtidentität, der Partialtriebe und Körperströme auf alles Festgefügte. Schizo und Co, bislang bloß Randfiguren der Gesellschaft, avancierten zu Topagenten einer neuen, unbeschriebenen Freiheit.

Mit den Neunzigern, in denen Ortlosigkeit für nicht wenige schlicht Obdachlosigkeit bedeutet und der simple Gang des Kapitalismus der Identitätsverweigerung viel von ihrem Glanz genommen hat, ist dieses Denken aber auch gealtert. Seine letzte Popform nahm es in der Techno-Bewegung an, wo einzelne Manifeste dazu aufforderten, den Klangstrom zum Beben zu bringen, mittels Technik den ekstatischen Körper neu zu erfinden.

Ob Deleuze diese späten Auslegungen seines Denken noch zur Kenntnis genommen hat, ist nicht bekannt. Und doch klingt es nach Techno, wenn er über Patti Smith schreibt: „Sucht keine Wurzeln, folgt dem Kanal.“ Jörg Lau/Thomas Groß