Spurenlos ideenreich

Warum der letzte Schrei die falsche Antwort auf den ersten Schrei ist: Ein Workshop im Einstein-Forum beschäftigt sich mit Erinnerung und der kulturellen Kodifizierung von Erfahrung  ■ Von Andrea Rödig

In seinem kleinen Text „Erfahrung und Armut“ beschreibt Walter Benjamin, wie mit der „ungeheuren Entfaltung der Technik“ seit dem Ersten Weltkrieg tradierbare Erfahrung unmöglich wurde: Die Soldaten kehrten verstummt aus dem Krieg zurück, sie waren nicht reicher, sondern ärmer an mitteilbarer Erfahrung geworden, weil das, was sie erlebt hatten, alle bisherigen Erfahrungen Lügen strafte.

An die Stelle eines von Generation zu Generation weitergegebenen Wissens tritt die Produktion von beständig Neuem, eine „barbarische“ Kultur, die keine Spuren hinterläßt, die sich nicht erinnert, statt dessen aber einen „beklemmenden Ideenreichtum“ hervorbringt.

Was ist eigentlich „Erfahrung“? Und wie hängt sie mit Erinnerung zusammen? Kann jemand, der sich nicht erinnert, der Neues nicht in Sinnstrukturen von Gewesenem einbettet, Erfahrungen machen? Läßt sich Erfahrung kollektiv vermitteln und als Traditionsgut weitergeben?

Ein eineinhalbtägiger Workshop im Einstein-Forum wird sich heute und morgen mit Beiträgen aus der Psychologie, Soziologie und der Historischen Anthropologie dem Thema „Erinnerung und die kulturelle Kodifizierung von Erfahrung“ widmen. Im Hauptvortrag mit dem Titel „Der letzte Schrei“ fragt der Berliner Psychoanalytiker Claus-Dieter Rath nach dem kulturellen und subjektiven Verhältnis von Erinnerung und Aktualität.

So mythenverdächtig psychoanalytische Deutungsmuster in vieler Hinsicht sein mögen, sie bieten zumindest für vieles eine Erklärung. Sie erklären etwa, warum wir uns überhaupt erinnern sollten: damit nämlich dasselbe nicht immer wieder geschieht. Laut Freud reproduziert der Wiederholungszwang das Vergessene und Verdrängte eben „nicht als Erinnerung, sondern als Tat“.

Überträgt man dieses Modell aufs Kollektive, so läßt sich die Kultur als ein Symptom verstehen, das auf Verdrängtem aufbaut und so Ausschlüsse produziert, bestimmte Erinnerungen fordert, andere unterbindet oder gar unmöglich macht. Erinnerung ist nicht nur einfache Reproduktion, sie kann auch als Erinnerungs-Forderung auftreten, die, wenn es sich um öffentlich Erinnertes und kulturell Zelebriertes handelt, mit Machtstrukturen verbunden ist.

Claus-Dieter Rath setzt – mit Hinweis auf Benjamins Unterscheidung von Erfahrung und Aktualität – dem „ersten Schrei“ des Individuums den „letzten Schrei“ der Mode entgegen und untersucht Prozesse der Idealbildung und der Identifikation.

Die Massenmedien, die über das Zeitgeschehen immer schneller berichten, die verschiedenen Moden, die immer neue Identitäten und Erfahrungen anbieten oder sich wieder auf alte Traditionen berufen, geben vor, Bedürfnisse zu befriedigen und Erfahrungen zu vermitteln. Sie antworten – laut Rath – auf den „Urschrei“, in dem das Subjekt seine Bedürftigkeit als Appell ausdrückt. Die „Aktualität“ gewinnt dabei den Status eines allgemeinen Gebots, eines Ideals, mit dem die Gesellschaft sich identifiziert.

Gleichzeitig ist aber – wie kann es anders sein – diese Aktualität eine, die das Erinnern und die Auseinandersetzung mit dem Traditionstext erspart. Den „letzten Schrei“ hält Rath schließlich doch für die falsche Antwort auf den ersten, er wirke wie ein Wiederholungszwang, schreibt er, weil er der Erinnerung keinen Raum und dem einzelnen nicht die Zeit lasse, „die Ordnung zu entziffern, die sein Begehren strukturiert“.

Stimmt Claus-Dieter Rath schließlich in das alte Lied vom immer neuen Kulturpessimismus ein? Sein Gewährsmann Walter Benjamin jedenfalls, der mehr beschreiben als erklären will, bleibt diesbezüglich auf provokante Weise ambivalent.

Der Abendvortrag im Einstein-Forum kann auch Anlaß geben, noch einmal zu fragen, inwieweit ein psychoanalytischer Ansatz den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit von subjektivem Erinnern und kollektiver Traditionsbildung sinnvoll erklären kann, ohne auf vernebelnde Zauberformeln zurückzugreifen, die psychische Mechanismen wie das Begehren einfach in gesellschaftliche verwandeln.

Ganz andere Herangehensweisen an dieses Thema werden am Freitag zur Sprache kommen. Unter anderem wird Jakob Tanner von der Universität Basel sprechen, der ein Modell für menschliche Erinnerungsfähigkeit vorstellt, das zwischen einer biologistischen und einer kulturalistischen Erklärung von Erinnerung vermittelt.

Heute, 20 Uhr, Einführung von Anselm Haverkamp: „Erinnerung und Diskurs – neue Forschungsansätze“

Anschließend Claus-Dieter Rath: „Der letzte Schrei. Das kulturelle und subjektive Verhältnis von Erinnerung und Aktualität“

Der Workshop wird morgen von 9 bis 12 und von 14.30 bis 17.30 Uhr mit vier weiteren Vorträgen fortgesetzt.

Die Teilnahme ist kostenlos, um telefonische Anmeldung wird gebeten: Tel. (0331) 271780

Einstein-Forum, Am Neuen Markt 7, Potsdam