■ Ein Jahr nach der „Estonia“-Katastrophe
: Null Lernprozeß

„Titanic“ und „Estonia“ – zwei herausragende Namen aus der Katastrophengeschichte der europäischen Passagierschiffahrt. Die „Titanic“ galt 1913 als unsinkbar, ein gewöhnlicher Eisberg wurde ihr zum Verhängnis.

Achtzig Jahre später galt die Fährschiffahrt in der Ostsee als die sicherste der Welt. Nichts Ungewöhnlicheres als ein Herbststurm ließ die „Estonia“ untergehen und offenbarte haarsträubende Mängel bei der Sicherheitsvorsorge. Gewiß, es gab in anderen Teilen der Erde Schiffskatastrophen, bei denen noch mehr Menschen in die Tiefe gerissen wurden. Aber Europas Schiffahrtsbranche hatte stets behauptet, die entwickeltste und modernste zu sein.

In drei Jahrzehnten war die Fährschiffahrt in Nord- und Ostsee zum Goldesel der Reedereien geworden. Eine neue Branche, die der gebeutelten Seeschiffahrt zur neuen Blüte verhalf. Schwimmende Hotels deckten viel mehr ab als den reinen Transportbedarf. Die „Kreuzfahrt für jedermann“ setzte sich durch. Bei ihr konnte man für einen Tag oder eine Nacht vergessen, überhaupt auf dem Meer zu sein. Ein Irrtum, der dummerweise auch den Reedereien, Werften und Seesicherheitsbehörden unterlief. 1.552 Tote bei 184 gesunkenen Schiffen meldet Lloyd's Schiffahrtsregister für 1994. Dreimal soviel wie ein Jahr zuvor.

Man habe gelernt, hieß es unter großem Betroffenheitsaufwand aus der Branche. Doch ein Jahr nach der Sturmnacht und dem Mayday der „Estonia“ ist davon wenig zu spüren. Noch immer schippern Schiffe genannte Fehlkonstruktionen mit Hunderten von Menschen tagein, tagaus über Nord- und Ostsee. Man werde bald aktiv werden, ist von Behörden und Reedern passend zum Katastrophenjahrestag zu hören. Doch neue Katastrophen-Kandidaten werden nicht gestoppt. 146 der 152 Mitgliedsstaaten der UN- Seesicherheitsorganisation IMO sind gegen eine Verschärfung der Sicherheitsvorschriften, nur weil „irgendwo in der Ostsee“ eine Fähre unterging. Und dies ist ein herrliches Argument für die Branche, teurere Umbauten und Nebenkonstruktionen auf den Sankt- Nimmerleinstag zu verschieben.

Unterdessen wird auf den Werften die nächste Generation von Fährschiffen gebaut: Hochgeschwindigkeitsfähren mit doppeltem Rumpf in superleichter Aluminiumbauweise. Nach der Seesicherheit und den Umwelteinwirkungen dieser Kraftpakete mit Triebwerken in dreifacher Jumbojet-Stärke wird kaum gefragt. Nur Rentabilität zählt – das ist der ganze Lernprozeß. Reinhardt Wolff