Der Weg in den Gletscher

Laßt Weltraumkälte zwischen euch fahren: Glück und Distanz – Von der Schwierigkeit eines Konzepts, das der Philosoph Helmuth Plessner in den zwanziger Jahren ersann. Kann der Film Naturkostüme für uns bereitstellen?  ■ Von Helmut Lethen

1984 erschien ein Aphorismenband von Bernd Nitschke mit dem Titel: „Von der Kälte des Gedankens und der Wärme des Leibes“, worin sich die folgenden Überlegungen finden:

„Der Ursprung aller Lüge liegt im Umgang mit den Gefühlen begründet. Die emotionale Maske, die Verstellung, die Täuschung, der Schein, das Tabu, das Ritual, ohne all diese Formen der Bekleidung und Verkleidung wären wir tatsächlich: nackt, also Tiere. Die Kleider, die wir auf dem Leib tragen, sind späte Folgen der ursprünglicheren Notwendigkeit, uns vor den Augen der anderen zu verstecken, uns die anderen und die eigenen Gefühle vom Leib zu halten.“

„Menschen, die alle Hüllen fallen lassen, werden nicht authentisch, sondern nur verrückt. Der authentische Mensch, der im Gefasel vom wahren Selbst beschworen wird, ist eine reine Fiktion; und darüber hinaus eine besonders ausgeklügelte Form der Simulation, des Versuchs, sich selbst und andere zu betrügen.“

„Wer den Menschen helfen will, der schneidert ihnen ein Kleid für ihre Gefühle, das ab und zu abgelegt werden kann. Wer sie betrügen will, reißt ihnen alle Kleider vom Leibe und läßt sie dann in der Kälte stehen.“

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Es wäre interessant zu untersuchen, welche Rolle ein Medium wie der Film in dem rituellen Spannungsfeld von „emotionaler Maske“ und dem Phantom des „Authentischen“ spielt; zu fragen, inwiefern er in bestimmten Konstellationen den Zuschauern „ein Kleid für ihre Gefühle schneidert“, mit dem sie sich „die eigenen Gefühle vom Leib halten“ und das ihn entlastet, indem es ihn nicht Beschämungsritualen „in den Augen der anderen“ aussetzt. Umgekehrt kann man sich auch fragen, ob nicht ausgerechnet der Film in einer bestimmten historischen Situation den Menschen die „Entkleidung“ überhaupt erst ermöglicht. Kann der Film der Fiktion des „wahren Selbst“, die sich im Alltagsleben nicht behaupten kann, ein Naturkostüm verleihen?

Von Nietzsche bis Boulevard Bio

Die Skepsis gegenüber dem Begriff des Authentischen steht in einer langen, von Nietzsche inspirierten Tradition, die freilich in der deutschen Kulturgeschichte kaum eine Chance hatte, sich durchzusetzen. Um so überraschender ist es, daß diese Gedanken im letzten Jahrzehnt an Anziehungskraft gewonnen haben: Richard Senetts „Tyrannei der Intimität“ hat in der Bundesrepublik eine zwar langsame, aber durchdringende Wirkung gehabt. Cora Stephans „Betroffenheitskult“ oder „Die neue deutsche Etikette“ sind nur einige Indizien für einen Prozeß, den man bis in Alfred Bioleks „Boulevard Bio“ verfolgen kann, in dem jemand wie Antje Vollmer ihre Wandlung vom Betroffenheitskult zur regelgegründeten Reserviertheit präsentiert.

Als der „Knigge“ für diese neue Reserviertheit könnte Helmuth Plessner gelten, dessen Buch „Die Grenzen der Gemeinschaft“ 1914 veröffentlicht wurde.

Gegen den Gemeinschaftskult gewendet, preist Plessner die Lebenskunst der Entfremdung. Es geht ihm um die Erlernung von Techniken, „mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen“. Es gilt, die Künstlichkeit der Gesellschaftsformen, auch wenn sie in lebensphilosophischer Tradition als „kalt“ und „mechanisch“ empfunden werden, als natürliches Milieu des Verhaltens zu erschließen, um die in der deutschen Kultur versäumte Verhaltenssicherheit zu gewinnen. Ist diese Entscheidung erst einmal gefallen, dann kann „die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch zur Distanz geadelt, die beleidigende Indifferenz, Kälte, Rohheit des Aneinandervorbeilebens durch Formen der Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit unwirksam gemacht und einer zu großen Nähe durch Reserviertheit entgegengewirkt werden“. Zivilisiertes Benehmen bedarf nicht der Verwerfung einer „authentischen“ Natur; denn der Mensch ist von Natur aus künstlich!

Man kann die weitreichende Radikalität dieses Grundsatzes von Plessners Anthropologie zu diesem Zeitpunkt nicht hoch genug veranschlagen. Künstlichkeit als einzig mögliches Medium humanen Verhaltens – das ist ein Grundsatz, mit dem das eingebürgerte Polaritätsdenken über Nacht umgewertet wird. Die polare Spannung, in die eine ganze Epoche Triebregung und sozialen Zwang, unentfremdetes Sein und Verdinglichung, authentischen Ausdruck und verhaltene Konvention, Organisches und Mechanisches versetzt hatte, wird zwar nicht plötzlich aufgehoben, aber doch so gewendet, daß die Entfremdungs-Kälte der „Gesellschaft“ als mögliches Lebenselixier denkbar wird.

An dieser Stelle müßte man freilich eine deutsche Sonderbarkeit bemerken: mußte erst eine fundamentale Anthropologie entworfen werden, um zivilisatorisches Verhalten zu begründen?

Man muß sich die Stimmung vergegenwärtigen, in der sich ein Großteil der radikalen Intelligenz nach dem Ersten Weltkrieg befand. Man hätte die „transzendentale Obdachlosigkeit“ betrauern und nach einer neuen Totalität streben können; Plessner aber reagierte lakonisch und schrieb 1931: „Von Überwölbungen ist nichts zu erwarten, außer, daß sie einstürzen.“

Ideal der glühenden Gemeinschaft

Dieser provozierende Satz war damals von großer Aktualität. Denn wo das Gefühl vorherrscht, daß sich kein bergender Himmel über den Einzelnen wölbt und die moderne Gesellschaft in ihrer „maßlosen Erkaltung“ schreckt, da lockt als Zufluchtsort „das Ideal einer glühenden Gemeinschaft“. Gegen diese Fluchtbewegung entwirft Plessner eine Verhaltenslehre für die „Kühle der Gesellschaft“. Seine Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“ erscheint 1924. Mit der Kombination der Begriffe „Gemeinschaft“ und „Radikalismus“, die der Untertitel in einem Atemzug nennt, nimmt sich Plessner eine Kernzone der deutschen Ideologie vor. „Gemeinschaft“ galt in diesen Jahren als ein Kampfbegriff gegen „Gesellschaft“; er meinte den Rekurs auf einen verlorenen „ursprünglichen und natürlichen Zustand“ der Einheit.

Wie ist das Schreckbild der „Gemeinschaft“ bei Plessner konstruiert? Welches Wunschbild gesellschaftlichen Verkehrs entwirft er, und von welcher Anthropologie geht er aus? Plessners Schrift wird von einem Polaritätsschema gesteuert, das in einer langen Tradition die Bilder der organischen „Gemeinschaft“ an den Wärmepol, die der mechanischen Gesellschaft an den Kältepol lagert; denn „Gesellschaft“ gilt in diesem dualistischen Schema als Sphäre der permanenten Trennungen. Plessner entschließt sich zum „Weg in den Gletscher“ der Gesellschaft (Theodor Lessing). Auch auf dem „Gletscher“ gilt es, Contenance zu wahren.

Er versteht zwar die Motive, sich mit einer „wärmenden“ Vertrauenssphäre zu umgeben, sieht den Mangel der Gemeinschaftsideologie aber in drei Faktoren:

1. „Gemeinschaft“ verschleiert die lebenserhaltende Funktion der Differenzen zwischen den Einzelnen, verdunkelt die internen Feindseligkeiten und die Notwendigkeit von Mißtrauenssphären.

2. Der Fundamentalismus des Gemeinschaftsgedankens ruiniert die Sphäre der Distanz des Einzelnen, weil er die Körpergrenzen der Einzelnen niederreißt. Sein Kult der „Echtheit“ ist mit dem Terror verschwistert.

3. Der Kult des „Eigentlichen“, dem die Gemeinschaft einen zentralen Platz einräumt, gilt, so befindet Plessner, einem Phantom, das sich „im Licht“ einer Verhaltenslehre betrachtet in Nichts auflöst.

Die Ethik der Taktlosigkeit

In vielen Passagen interveniert Plessners Schrift direkt in die zeitgenössische Szene von Kunst und Literatur. Vor allem, wenn er in ihr die Symptome eines Aufrichtigkeitskults aufspürt, gegen den sich seine Verhaltenslehre richtet: „Industrialismus ist die Verkehrsform, Expressionismus die Kunst, sozialer Radikalismus die Ethik der Taktlosigkeit. Der Schrei nach körperlicher Hygiene, der schon mit Oberlicht und gekachelten Wänden zufrieden ist, paßt trefflich zu einer Kunst, die ohne Umstände auf das Wesentliche losstürzt, zu einer Moral der rücksichtlosen Aufrichtigkeit und des prinzipiellen sich und andern Wehetuns.“

Gegen Bauhaus und Expressionismus

Die Inszenierung von „nackter Ehrlichkeit“ oder „eruptiver Echtheit“ duldet Plessner in keinem zeitgenössischen Design, weder in dem neusachlichen der Innenräume der Bauhaus-Architektur noch vor expressionistischer Kulisse. Der Raum der Hygiene ist dem Kältepol, die „rücksichtslose Aufrichtigkeit“ dem Hitzepol angelagert. Plessners Schrift richtet sich gegen alle Formen des unvermittelt Direkten, er plädiert in seiner Schrift für die mäßigen Temperaturen und das gebrochene Licht,

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für alle Spielarten in Kunst und Literatur, die von der Bloßstellung des Intimen entlasten und Techniken zur Regulierung der Distanzen einüben.

Wie Richard Sennett 50 Jahre später betont Plessner, daß der Kult des authentischen Ausdrucks mehr Leiden schaffe als behebe: „Aufrichtigkeit ist keine Richtschnur einander fremder Personen [...] Nach kurzem Zusammenprall müßte sich Weltraumkälte zwischen sie legen.“

Gegen die angeheizten Bilder einer geschlossenen „Gemeinschaft“ als einer „ungesonderten Einheit“ setzt er das Bild der „Gesellschaft“, die er relativ formal definiert. Sie ist ein „offenes System von Verkehrsformen“ einander fremder Menschen, durch „Wertferne“ gezeichnet, von Gewalt und Feindseligkeit grundiert, aber mit wachsenden „Spielmöglichkeiten“ für den Einzelnen versehen. In diesem System tritt der Mensch niemals in Rohform, sondern immer schon in einer Rolle auf, in der er sich im Umgang/Austausch mit den Fremden definiert. Um die Reibungsfläche mit den anderen zu verkleinern, muß der Einzelne ein funktionierendes Gleichgewicht zwischen Vertrauens- und Mißtrauenssphären schaffen. Bei diesem Unternehmen entlasten ihn „Zeremoniell“ und „Prestige“, „Diplomatie“ und „Takt“, die für den Ausgleich von „Distanz und Nähe“, „Objektivität und Familiarität“ sorgen. Es bedarf der virtuosen Handhabung von „Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen“. Es geht um die Einhaltung der „mäßigen Entfernung“, von der Schopenhauers berühmtes Gleichnis von den frierenden Stachelschweinen spricht.

Die Grundsätze seiner Anthropologie von 1924 lauten lapidar: Der Mensch ist von Natur aus künstlich. Er wird in einer „exzentrischen“ Position zu seiner Umwelt geboren und bedarf der Künstlichkeit einer zweiten Natur, des kulturellen Kontextes, den er um sich webt, um überhaupt leben zu können.

Daraus ergeben sich die Bedingungen für die Psyche. Alle ihre Äußerungen sind den Gesetzmäßigkeiten der Künstlichkeit (wir würden heute sagen: der symbolischen Ordnung, der Öffentlichkeit und der Institutionen) unterworfen: „vermittelte Unmittelbarkeit“ ist das Los des Menschen. Das Psychische muß sich im fremden Medium verlieren, um zu sich zu gelangen. Direktheit und Authentizität, die die Gemeinschaft der Seele abverlangt, sind gegen ihre Natur. „Im Indirekten zeigt sich das Unnachahmliche des Menschen. [...] Direkt und echt im Ausdruck ist schließlich auch das Tier; käme es auf nichts mehr als Expression an, so bliebe die Natur bei den elementarsten Lebewesen und ersparte sich die Gebrochenheit des Menschen.“

Künstlich sein als Gebot der Stunde

Man möchte in Plessners Grenz- Schrift eines der seltenen zivilisationsfreundlichen und zivilen Dokumente der deutschen Kulturgeschichte begrüßen. Allerdings machen tiefe Risse in Plessners Konzept klar, daß sich die Haltungen, die Plessner vorschlägt, nicht in eine kulturelle Tradition einbetten können, sondern die Anstrengung des Hochleistungssports fordern. Man merkt mitunter, mit welcher Brachialgewalt Plessners Anthropologie „Reflexionsfiguren des deutschen Idealismus in den Leib versenkt“. Sie geben die Angst als einen elementaren Beweggrund preis.

Warum darf der Einzelne die Arena der Öffentlichkeit „nur mit Rüstung“ betreten? Plessner nennt das Motiv mit wünschenswerter Klarheit: „Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt“, sagt er, „trägt das Risiko der Lächerlichkeit.“ Das ist das Risiko, das der zu jedem Risiko entschlossene Mann nicht eingehen darf. Denn es geht um die „Würde“, die nur im Panzer des Ich gewährleistet ist. Es liegt nahe, hierin eine „Maskerade des virilen Narzißmus“ zu erblicken.

Irgend etwas stimmt nicht mit Plessners Grundsatz: Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob der Grundsatz seiner Anthropologie „Der Mensch ist von Natur aus künstlich“ mit einem Geniestreich das Problem des Dualismus gelöst habe; es gibt demnach keine separate Naturseite des Körpers, die instinktive Ebene des Menschen ist mit der kognitiven verklammert, und Sinneswahrnehmungen sind ein durch und durch artifizielles reflexives Produkt: „Die Sinne selbst sind geistvoll strukturiert.“ Von einer Entspannung des Leib/Seele-Problems kann aber keine Rede sein. Im Rahmen seiner Verhaltenslehre nimmt sein Grundsatz nämlich die imperative Form einer Regel an: Der Mensch sei von Natur aus künstlich! Der Elementarsatz seiner Anthropologie ist ein Gebot.

Tat-Typ Bismarck, Wärmereservat Frau

Das Problem von Plessners Verhaltenslehre liegt darin, daß sie sich im Rahmen einer männlichen Schamkultur abspielt, in der nichts als schändlicher gilt, als dem Blick der anderen ausgesetzt zu sein. Das „ungehemmte Sich-Loslassen der Seele in den Ausdruck hinein“ kann unter Umständen tödlich sein; immer aber ist es lächerlich. Die „Furcht und das Grauen vor der Lächerlichkeit“ sind im tiefen Grunde „die Furcht vor Verlassenwerden“.

Diese Beobachtung macht uns auf eine zweite Merkwürdigkeit von Plessners Schriften aufmerksam: Plessners Idol ist Bismarck, dessen Mut zu riskantem Zupacken er preist, dessen Amoralität im Wagnis der Entscheidung für ihn „luziferischen“ Reiz ausstrahlt und dessen Verachtung der Gesprächskultur des Bürgertums er teilt. Bismarck erscheint ihm als Tat-Typ reinsten Wassers, der sich – im Gegensatz zum Typus des demokratischen Politikers – nicht „den Luxus der Gewissensharmonie eines Rentiers“ leistet. Schon Spengler hatte den Fürsten als „letzten spanischen Politiker“ gefeiert. Bismarck dient Plessner als Schirmherr gegen jede Form der politischen Empörung.

Dieser Bismarck-Kult mag ein Indiz dafür sein, in welchem Ausmaß Plessner im Banne der Männlichkeitsvorstellungen des wilhelminischen Kaiserreichs bleibt. Es ist darum durchaus konsequent, daß er in seinem Beschämungstheater einen Ort ausspart, an dem der Mensch sich ohne Risiko fallen lassen darf. Es ist ein privater Ort. Den Ruhepunkt dieses Reservats bildet eine Gestalt, die bis zu diesem Zeitpunkt in Plessners anthropologischer Arena noch nicht aufgetreten ist. Es ist die Frau. Im „Gnadengeschenk“ ihrer Liebe ist das Sich-Loslassen des Mannes ausnahmsweise zugelassen. Außer in diesem kurzen Seitenblick auf sie als Gnadeninstanz kommt sie nur noch in einer einzigen Zeile in Plessners Verhaltenslehre vor. Hier siedelt er sie auf tieferer Stufe außerhalb der Machtsphäre des Lebens an und begnügt sich mit der Bemerkung, daß sie „nach dem Wort der Romantiker bei sich bleibende Natur“ sei. Aus der Sphäre der Künstlichkeit verbannt, verbürgen die Frauen, wie schon im 18.Jahrhundert, die erste Natur, weil sie im „zweiten Vaterland“ der symbolischen Ordnung ihre Identität nicht realisieren können. Mit dieser Ausschlußklausel bietet sich eine neue Lesart des Elementarsatzes an: „Der Mann sei von Natur aus künstlich.“

Politische Verstrickung der Distanzlehre

In der Endphase der Republik radikalisiert Helmuth Plessner die politischen Elemente seiner Theorie, die sich auf die Gewalt in der Endphase der Weimarer Republik einstellt. Es kommt zu einer theoretischen Liaison mit der Staatslehre Carl Schmitts. Gegen Max Scheler und Martin Heidegger gewandt, denen er vorwirft, Möglichkeitsbilder des eigentlichen Menschseins zu entwerfen, will seine Anthropologie den Menschen als ein „Zurechnungssubjekt“ der gewalttätigen Welt begreifen. Wer die philosophische Anthropologie wie die genannten Rivalen zwischen die Pole des Sprungs in die Eigentlichkeit oder die Seinsvergessenheit des „Man“ spanne, aktualisiere nur den lutherischen Riß zwischen einer privaten Sphäre des Heils der Seele und einer öffentlichen Sphäre der Gewalt. Demgegenüber besteht Plessner auf dem Gedanken, daß der Mensch als ein von Geburt an auf Künstlichkeit angewiesenes Lebewesen sich nur in der Sphäre des „Man“ realisieren kann. Er äußert den Verdacht, daß die durch politische Gleichgültigkeit glänzenden Wesenslehren durch ihre Versenkung in die Eigentlichkeit die Gewalt erst recht anlocken. Daher fordert er die Politisierung der Anthropologie, die verhindern soll, daß der Anthropologe hinterrücks von der Politik erwischt wird.

Verblüffend ist, daß Plessner offensichtlich bei der Konstruktion seiner Verhaltenslehre nie das Gefühl los wird, daß das Einverständnis mit dem Lebenszustand der Entfremdung zu einem „Kult des Bösen“ gehört, den er selbst zelebriert.

Dezisionslustige, infernalische Männer

„You must give the Devil his due“, schreibt Plessner als Motto über die Einleitung seiner Grenz-Schrift von 1924. Beiläufig bemerkt er den „luziferischen“ Reiz, der von dezisionslustigen Männern ausgeht. Das Motiv, mit dem Teufel zu pokern, ist nicht unverdächtig. Sobald die Hoffnung auf eine heilsgeschichtliche Erlösung geschwunden ist, sucht das politische Subjekt sich in das Räderwerk der Gewalt einzuschalten. Max Weber hatte den Grundsatz 1919 in seiner Abgrenzung zur leidenschaftlichen Ungeduld der Jugendbewegung unter das Motto gestellt: „Bedenkt, der Teufel, der ist alt, so werdet alt, ihn zu verstehen.“ Er betonte die Notwendigkeit, sich in die Voraussetzungen und faktischen Züge des Gegners zu versenken und sie zu studieren, um ihre Reichweite abschätzen zu können, statt seine Macht durch „Entrüstung“ oder „Flucht“ zu stärken. Plessner sekundiert in seiner Grenz-Schrift mit der neusachlichen Devise „Mit der Wirklichkeit rechnen heißt mit dem Teufel rechnen“.

„Luzifer“ mag das Erkennungszeichen der radikalen Intelligenz gewesen sein – der wie ein Blitz aus dem Himmel gefallene Engel erhebt auch als Fürst der Finsternis immer noch den Anspruch, „Lichtbringer“ zu sein. Auch wenn Denker wie Plessner und Schmitt sich mit dem Machtgedanken arrangieren, wollen sie Teil der Aufklärung bleiben. Diese Denkfigur hat in Deutschland kaum eine Tradition.

Ein weiteres Indiz, an dem sich schon 1924 sowohl Gleichgesinntheit als auch die Möglichkeit der Trennung ablesen läßt: Beide waren sich in der Verehrung der Gestalt des Großinquisitors aus den „Brüdern Karamasow“ einig. In der Tat galt Dostojewskis unheimliche Gestalt schon im 19. Jahrhundert als Inbegriff des Machiavellismus und damit einer „jesuitischen Politik“. Langsam aber verschiebt sich in der politischen Semantik die Konnotation des Jesuiten auf die des „Juden“. Hier werden sich dann die Wege der „kalten personae“ auf eine Weise trennen, die ihr Spiel der Definitionen nicht vorgesehen hatte. Schmitt darf noch eine Weile – als „Kronjurist des III. Reiches“ – „Jesuit“ sein. Helmuth Plessner fällt aus Gründen der Rassenpolitik der Diktatur, die jetzt den Unheimlichkeitshorizont des vertrauten Reiches biologisch markiert, in die Sphäre des Feindes. Er ist gezwungen, über die Türkei in die Niederlande zu emigrieren. Da sich ihre Lebenswege so trennten, hat man ihre frühen Affinitäten kaum wahrgenommen.

Mit leichter Hand können wir heute bestimmte Elemente aus Plessners Verhaltenslehre der Distanz über Bord werfen. Kann man den Kult des Bösen, die Politik der Extreme und den virilen Heroismus womöglich – dem Film überlassen? Dem Film, in dem alles als Spiel der Verkleidungen in Austausch gebracht werden kann, solange wir eine Sphäre des Relativismus verteidigen, in der sich die Plessnersche Kunst der Verhaltenheit umsetzt.

Von diesem Standpunkt aus könnte es eventuell gelingen, selbst das „Beschämungstheater“ zu verlassen, das in den Aphorismen von 1984 immer noch den Rahmen der Überlegung bildet. „Affektbeherrschung“, las man dort, „ist ein mehr oder weniger gelungener Versuch, uns vor den Augen der anderen zu verstecken.“ Das ist immer noch in der Welt der virilen Panzerung und Entpanzerung gedacht. Nötig wären Filme, die unseren Gefühlen Zivilkostüme des Austauschs schneiderten.

Helmut Lethen ist Professor für Literaturwissenschaften in Rostock. Wir danken dem Autor für die Überlassung des Manuskripts dieser Rede, die er am 23. 6. auf dem Kirchentag in Hamburg hielt. Sie wird in einigen Monaten im Rahmen einer Publikation der Evangelischen Akademie veröffentlicht.