Indiens Unberührbare auf dem Marsch nach oben

■ Im größten Bundesstaat Uttar Pradesh wird eine Frau aus Indiens Dienerkaste, die den Unverstand und den Zorn der hohen Männer erregt, Premierministerin

Delhi (taz) – „Gott hat dem Diener nur eine Tätigkeit zugeordnet: den anderen Kasten ohne Groll zu dienen.“ Entscheidend in diesem Zitat aus den „Gesetzen von Manu“, dem klassischen indischen Kastenkodex, ist der Begriff „ohne Groll“: Das Dienen ist nicht Unterdrückung des Schwächeren, es gehört zu seiner Natur.

Nun hat Indiens Dienerkaste einen kleinen, aber wichtigen Schritt getan, um dieses Stigma loszuwerden: Der höchste Regierungsposten in Indiens größtem Bundesstaat Uttar Pradesh wird von einer 39jährigen Unberührbaren eingenommen.

Die neue Landesfürstin, am Dienstag formell vom Parlament des Bundesstaates gewählt, nennt sich Mayawati. Auf einen Familiennamen hat sie demonstrativ verzichtet, weil Diener eines Familiennamens nicht wert sind. Doch den Groll hat sie nicht unterdrückt: Mayawati läßt keine Gelegenheit aus, um ihrem Zorn Luft zu machen. Höfliche Umgangsformen kümmern sie nicht. Sie ist schrill, sie schimpft und flucht, sie ist kampflustig, taktlos, provokant. Als Mayawati 1989 über einen „reservierten“ Sitz ins Parlament kam, bemühte sie sich nicht, die vornehmen Regeln des Hauses zu beherschen. Bei einer Wortmeldung blieb sie selten hinter ihrem Pult stehen, sie lief laut schreiend in den Parlamentsgraben und überhörte die Glocke des Speakers. Eine Parlamentarierin mußte damals die Widerspenstige zurückbegleiten. Mayawati genoß die Publizität. Denn wie ihr Lehrmeister Kanshi Ram, dem sie seit der Gründung der Unberührbarenpartei „Bahujan Samaj Party“ (BSP) 1984 als Nummer zwei dient, hat sie nur ein Ziel: die „Dalits“, die Unberührbaren, an die Macht zu bringen. Vor zwei Jahren nannte sie Mahatma Gandhi den „größten Feind der Dalits“, weil er sie „Kinder Gottes“ genannt hatte. „Warum nannte er sich selber nicht ein Kind Gottes?“ fragte sie respektlos. Abgeordnete forderten daraufhin ihre Entfernung aus dem Parlament, und die Zeitungen nannten sie eine Nestbeschmutzerin. Mayawati genoß das, denn sie wußte, daß sie damit das Selbstbewußtsein der Dalits stärkte. Tatsächlich sind sich Soziologen einig, daß es das Gefühl der Wertlosigkeit ist, das die Dalits in 48 Jahren indischer Unabhängigkeit daran gehindert hat, im demokratischen Prozeß die Rolle zu spielen, die ihrer Menge – etwa 35 Prozent der Bevölkerung – entspricht.

Jahrzehntelang war die indische Kongreßpartei, die seit der Unabhängigkeit fast ununterbrochen regiert hat, die selbsternannte Sachwalterin der Unberührbaren. Der Legitimationsverlust blieb nicht aus, und er führte 1984 zur Gründung der BSP. Diese Partei wurde 1993 in Uttar Pradesh Juniorpartnerin in einer Regierung, in welcher die nächsthöhere Kaste der Yadav-Bauern und andere „rückständigen Kasten“ zum Zug gekommen waren. Solidarität durfte man in dieser Koalition nicht erwarten, denn alle stritten sie sich um den schmalen Platz an der Sonne. Achtzehn Monate lang wurde die BSP von Chefminister Mulayam Yadav ausgespielt. Nach den letzten Lokalwahlen hatten Mayawati und ihr Mentor und Parteichef Kanshi Ram genug: In geheimen Gesprächen mit der höherkastigen hindunationalistischen BJP einigten sie sich darauf, Mulayam zu stürzen.

Um diesen daran zu hindern, BSP-Abgeordnete zu entführen, verbarrikadierte sich Mayawati mit ihnen im staatlichen Gästehaus von Uttar Pradesh, woraufhin Premier Mulayam Strom und Wasser abstellen ließ.

Mayawati ließ keinen ihrer Abgeordneten aus den Augen, lief zwischen ihnen auf und ab und rief ihnen zu: „Wer desertiert, wird in fünfzig Stücke zerrissen.“ Zwei Tage darauf war sie Chefministerin von Uttar Pradesh. Bernard Imhasly