Spionage, Landesverrat, Kollaboration

■ Yoel Cohen zur „Affäre“ Vanunu und dem geheimen Atomwaffenarsenal in Israel

Am 5. Oktober 1986 veröffentlichte die „Sunday Times“ einen aufsehenerregenden Bericht über Israels geheimes Atomwaffenarsenal. Die Informationen stammten von Mordechai Vanunu, einem israelischen Atomtechniker. Fünf Tage nach der Veröffentlichung wurde Vanunu vom israelischen Geheimdienst Mossad entführt und in Jerusalem vor ein Gericht gestellt. Seitdem sitzt er wegen „Spionage, Landesverrat und Kollaboration mit dem Feind“ für 18 Jahre in Einzelhaft. Der in Jerusalem lehrende Dozent und Journalist Yoel Cohen hat ein Buch über die Vanunu-Affäre geschrieben, das tiefe Einblicke in die israelische Atomwaffenpolitik bietet. Die deutsche Übersetzung ist eben erschienen.

taz: Haben Sie Vanunu getroffen?

Yoel Cohen: Ich habe ihm Briefe geschrieben, aber er durfte sie nicht beantworten. Er darf mit niemandem sprechen, außer mit seiner Familie und seinem Anwalt. Die Haftbedingungen wurden von den Sicherheitsdiensten vorgeschrieben, denn Vanunu hatte erklärt, daß er sich verpflichtet fühle, zu erzählen, was er weiß. Und das sind Staatsgeheimnisse.

Wie haben Sie in dieser Atmosphäre in Israel recherchiert?

Das Buch wurde dem Zensor vorgelegt, und der hat einige Teile gestrichen. Beim Thema Atomwaffen sind die israelischen Zensoren sehr sensibel.

Wurde das Buch in Israel veröffentlicht?

Nein, die Verlage haben behauptet, in Israel bestehe kein Interesse an der Vanunu-Affäre. Vanunu gilt hier als Verräter.

Heißt das, daß die meisten Israelis seine Haft unterstützen?

Mit Sicherheit stört es sie nicht. Die Mehrheit der gemäßigten Linken will mit der Affäre nicht in Verbindung gebracht werden, und die meisten Israelis unterstützen das Atomwaffenprogramm.

Hat der Friedensprozeß das Denken nicht verändert?

Was Atomwaffen angeht, nein. Die Intellektuellen, beispielsweise in der Arbeitspartei, denken, daß das Land in einer Übergangsperiode ist, in der es Atomwaffen brauche. Nach Jahren des Konflikts bewegt sich Israel auf einen Frieden zu. Dafür geht es eine ganze Reihe territorialer Kompromisse ein. Die Leute sind überzeugt, daß es in dieser Zeit einen atomaren Schutzschirm braucht. Israels Atomwaffenprogramm ist für prominente Mitglieder der Arbeitspartei ein Eckstein ihrer Politik, einer ihrer Architekten ist Außenminister Schimon Peres.

Wird Israel auch in Zukunft den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschreiben?

Israel hat gesagt, es wird dem Vertrag nicht beitreten, solange Irak und Iran – beides Unterzeichnerstaaten – nicht sauber sind. Es gibt kaum israelische Politiker, die auf Atomwaffen verzichten wollen. Ein Grund für die Geheimhaltung ist aber, daß die US-Gesetze es der Regierung in Washington verbieten, Staaten zu unterstützen, die sich Atomwaffen beschaffen.

Während des zweiten Golfkriegs haben israelische Militärs mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen Irak gedroht ...

Sie haben gesagt: Wenn Saddam Hussein Israel mit chemischen Waffen angreift, haben wir eine „starke Antwort“.

In Bagdad wurde das verstanden. Die Drohung spricht aber gegen die Version des Einsatzes von Atomwaffen als „letzte Option“. Könnte Israel Atomwaffen unterhalb der angeblichen Schwelle einsetzen?

Wenn so etwas erwogen wird, dann als möglicher Gegenschlag gegen den Iran oder Irak.

Hat der Zusammenbruch der Sowjetunion etwas verändert? Angeblich sind exsowjetische Waffen auch für terroristische Gruppen erhältlich.

Solche Gruppen gelten in Israel nicht als Hauptbedrohung. Man ist aber sehr beunruhigt darüber, daß sich der Iran Teile von Atomwaffen aus der ehemaligen Sowjetunion beschafft haben könnte. Beim Mossad stehen aktive Maßnahmen dagegen ganz oben auf der Prioritätenliste.

Seit der Vanunu-Affäre heißt es, Israel habe zwischen 100 und 200 atomare Sprengköpfe. Das würde ausreichen, um die gesamte Region in die Luft zu jagen. Warum diese Riesenkapazität?

Vanunu hat nie einen Sprengkopf gesehen. Er hat an der Trennung von Plutonium von Uran gearbeitet. Die Sunday Times hat aufgrund seiner Angaben über die verarbeiteten Mengen errechnet, daß Israel etwa 150 Sprengköpfe haben müßte. Andere Spezialisten gehen von 100 Sprengköpfen aus, die US-Regierung von 60 bis 100. Natürlich würden zur Abschreckung von Israels Gegnern vielleicht fünf Sprengköpfe ausreichen. Aber hier gibt es keine Diskussion, wie viele Sprengköpfe man haben oder nicht haben sollte. Und laut einer Umfrage sind fast 80 Prozent der Israelis davon überzeugt, daß Israel den Sperrvertrag nicht unterzeichnen soll.

Was hat das für Gründe?

Unter anderem psychologische. Die Leuten wollen eine Art atomaren Schutzschirm. In einer Zeit, in der Israel territoriale Zugeständnisse macht, ist ein Verzicht auf Atomwaffen für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung indiskutabel.

Was hat dann Vanunu erreicht?

Er wollte in Israel eine Diskussion darüber auslösen, ob der Staat Atomwaffen haben soll oder nicht, einschließlich der moralischen Dimension der Frage. Die Debatte hat aber nie stattgefunden.

Glauben Sie, daß Israel jemals eine Kontrolle seiner Atomwaffen akzeptieren würde?

Möglicherweise, wenn sie auf regionaler Ebene als Teil des Friedensprozesses ausgehandelt wird. Israel hat wenig Vertrauen in die internationalen Institutionen. Gespräche über Rüstungskontrolle sind ein Teil der 1991 in Madrid beschlossenen multilateralen Verhandlungen. Diese Gespräche finden seither auf sehr niedriger Ebene statt.

Wenn Sie an einen atomwaffenfreien Nahen Osten denken, dann in welchen Zeiträumen?

In Jahrzehnten. Ich glaube, Vanunu wird lange frei sein, bevor Israel auf Atomwaffen verzichtet. Interview: Thomas Dreger

Yoel Cohen: „Die Vanunu-Affäre. Israels geheimes Atompotential“, Palmyra Verlag, Heidelberg, 440 Seiten, 44 DM