Rußlands unmenschliche Geschäfte

Rußlands Exportschlager war und ist die Atomtechnologie. Dabei bekommt der russische Staat nicht einmal bei sich zu Hause die Atomwirtschaft unter Kontrolle.  ■ Von Wladimir Michailowitsch Kusnezow

Der Export der sogenannten friedlichen Atomkraft aus der Sowjetunion lief in den 70er und 80er Jahren auf Hochtouren. Atomkraftwerke bauten unsere Regierungen nicht nur in ruhigen Ländern wie Finnland, sondern auch dort, wo man so etwas erst recht bleiben lassen sollte, zum Beispiel in Libyen und auf Kuba. Die letztgenannten beiden Projekte kamen nach langem Tauziehen durch den politischen Wandel in unserem Lande schließlich zum Erliegen. Schlüsselfertige Atomforschungszentren entstanden dagegen mit Hilfe der UdSSR in Libyen und Nordkorea.

Manche der belieferten Länder fanden Atomkraft einfach schick (so ähnlich wie die Ausflüge in den Kosmos, wo sich fast alle Mitglieder des sozialistischen Lagers vorübergehend einmal aufgehalten haben). Andere aber wollten um diesen, wie überhaupt um jeden Preis an Atomwaffen herankommen. Der Gedanke ist damals bei uns offenbar niemandem in den Kopf gekommen, warum zum Beispiel ausgerechnet Libyen mit seinen schier unbegrenzten natürlichen Energieressourcen ein so schwieriges Ding wie ein Atomkraftwerk nötig haben sollte.

Die Leiter der sowjetischen Atomämter interessierten sich wenig für die bestehenden Hinweise darauf, daß die Führer dieser Länder eine terroristische Politik betrieben. Schließlich standen diese doch im gegebenen historischen Augenblick mit uns gemeinsam ein und demselben imperialistischen Feind gegenüber, nämlich den USA und Israel.

Die Zeiten haben sich zwar geändert, unsere Bilder von heimtückischen Feinden und deren Spießgesellen sind verblaßt. Nur unser Atomministerium bleibt. Und um zu überleben, versucht das Atomministerium der Russischen Föderation (Minatom) immer häufiger, die allergefährlichsten Technologien gegen Devisen zu verkaufen. Dabei macht es vor nichts halt und mißachtet unsere Umwelt und die Gesundheit der eigenen Bevölkerung wie eh und je.

Atomare Zusammenarbeit mit den USA

Nun hat diese Behörde einen reichen und einflußreichen Förderer im Ausland gefunden, der noch unlängst ihr „Rivale Nr. 1“ gewesen ist, nämlich das Energieministerium der USA (DOE). Diese beiden Ämter haben eine Menge gemeinsam, vor allem den Ursprung im Atomwaffenprogramm ihres Landes. Ein konkretes Beispiel für ihre Zusammenarbeit bildet der 1993 unterschriebene Vertrag, demzufolge Rußland für sechs Millionen Dollar den USA fünf Kilogramm Plutonium 238 liefern sollen. Dessen hohe spezifische Energieabstrahlung macht es für die Nutzung als Energiequelle im Weltraum geeignet. Hergestellt werden soll das Plutonium 238 in der skandalumwitterten Atomfabrik Majak im Ural.

In letzter Zeit riß aber sogar diesem Sponsor der Geduldsfaden angesichts der Geschäftstüchtigkeit unseres Atomministeriums. Nur so kann man das Bestreben der USA erklären, das Zustandekommen der Verträge zwischen Rußland und dem Iran zu verhindern, die die Lieferung von Reaktorblöcken des Typs russischen WWER-1000 an den Iran vorsehen.

Im Atomministerium versichert man uns wieder, daß mit dem zu liefernden russischen Leichtwasserreaktor WWR-1000 die Anreicherung von Plutonium unmöglich sei – eine Versicherung, auf die man eigentlich gar nicht einzugehen braucht. Denn diese Art von Gerede ist als Beruhigungspille für Dilettanten gedacht, die in Physik nicht einmal in der Mittelschule mitgekommen sind. Auch ist es wenig beruhigend, daß alles, was nach direkt militärischer Anwendung riecht, aus dem russisch-iranischen Vertragswerk wieder herausgenommen wurde, unter anderem die ursprünglich geplante Lieferung einer Gaszentrifuge. Solche Zentrifugen stehen etwa im Sibirischen Chemischen Kombinat, in der Stadt Tomsk 7, wo damit neuerdings auch für den französichen Plutoniumkonzern COGEMA Uran angereichert wird.

Direkt waffentauglich oder nicht – die Betriebssicherheit des WWER-1000-Reaktors ist nicht gewährleistet. Radioaktive Stoffe können abgezweigt werden, und die ökologischen Probleme mit dem aus dem Iran zurückkehrenden radioaktiven Müll sind auch ungelöst.

Die Sicherheitsbilanz der russischen Reaktoren

Der im Iran geplante 1000-Megawatt-Reaktor entspricht einem sowjetischen Typ, von dem in den ehemals zum Ostblock gehörenden Ländern einschließlich der GUS heute noch 57 Stück in Betrieb sind. Sie alle wurden in den 60er und 70er Jahren geplant, und die Mehrheit von ihnen hat eine ganze Reihe nicht mehr zu beseitigender Mängel, unter anderem:

– das Fehlen einer Schutzhülle um den Reaktor;

– nur begrenzte Möglichkeiten zur Kühlung der aktiven Zone im Falle einer Havarie;

– das fast völlige Fehlen von Sicherheitsreserven und von Arbeitsteilung in der Sicherheitsausstattung;

– unzulängliche Kontroll- und Meßinstrumente sowie Lenkungssysteme;

– ernsthafte Mängel der Feuerlöschanlage.

1994 waren in den neun russischen Atomkraftwerken 29 Blöcke in Betrieb, darunter

– 13 wassergekühlte WWER-Reaktoren (6 WWER-440-Blöcke und 7 WWER-1000-Blöcke),

– 15 Energieblöcke mit graphit- moderierten RBMK-Reaktoren (der Tschernobyl-Typ)

– und ein Schneller Brüter (BN-600).

Im vergangenen Jahr kam es in diesen 29 Reaktoren zu insgesamt 127 Störfällen. Auf die Kraftwerke mit WWER-Reaktoren entfielen 97 und auf die Kraftwerke mit RBMK-Reaktoren 30 Störfälle. 26mal mußten Atommeiler ungeplant abgestellt werden – 19mal die WWER-Reaktoren, siebenmal Reaktoren des Tschernobyl-Typs RBMK. Damit mußten die WWER-Reaktoren 1994 doppelt so oft abgestellt werden wie im Vorjahr.

Im vorigen Jahr haben bei unseren WWER-Reaktoren 52mal die Sicherheitssysteme versagt und bei RBMK-Reaktoren 13mal. 1994 erbrachten die Atomkraftwerke der Russischen Föderation nur 52,6 Prozent ihrer theoretisch möglichen Leistung (21242 MWt).

Für den sicheren Betrieb von Atommeilern fehlen in Rußland nicht nur die technischen Voraussetzungen, es hapert auch an den gesetzlichen Grundlagen. Erst in der dritten Maiwoche hat die Duma (das russische Parlament) endgültig zwei Gesetze für mehr „Sicherheit der Bevölkerung“ und „über die Politik des Staates im Umgang mit radioaktiven Stoffen“ abgeschmettert. Für das im August 1992 verabschiedete staatliche Strahlenschutzprogramm der Jahre 1992–1996 fehlt das Geld.

Die sichtbar werdende laxe Haltung wirkt sich natürlich auch auf die Verwaltung der radioaktiven Materialien aus. 1994 wurden in den Unternehmen des Atomministeriums der Russischen Föderation neunzehn Fälle von Diebstahl natürlichen und angereicherten Urans festgestellt. In zwölf Fällen wurde die Entwendung von Quellen ionisierender Strahlung nachgewiesen, die Radionukleide von Caesium 137, Iridium 192 und Kobalt 60 enthielten. Bei der Untersuchung all dieser Fälle stieß man auf lasche Dienstdisziplin, veraltete Kontrollinstrumente und das Fehlen von entsprechenden Ausgangskontrollen.

In allen Fällen hatten die Angestellten freien Zugang zu den Quellen der ionisierenden Strahlungen. Gestohlen wurde, um sich zu bereichern. Angesichts dieser unerfreulichen Bilanz bleibt nur ein Schluß: En Staat, der sein Atomprogramm bei sich zu Hause nicht in den Griff bekommt, kann keine Kerntechnologien in andere Länder liefern und sie dort glaubwürdig kontrollieren.

Der Vertrag mit dem Iran kann die Nutzung von abgebranntem Brennstoff für terroristischen Zwecke nicht ausschließen. Schließlich fällt beim Einsatz von Uran in den WWER-Atommeilern Plutonium an, eines der toxischsten chemischen Elemente. Traditionell wurde der abgebrannte Kernbrennstoff aus den von der Sowjetunion im Ausland gebauten Atomkraftwerken zur Weiterverarbeitung in die UdSSR zurückgeschickt. Dies ist nun auch für den im Iran verwendeten Brennstoff vorgesehen. Doch die ökologische Situation um die Standorte unserer Wiederaufarbeitungsanlagen ist heute schon katastrophal.

Die Rücknahme von Abfällen ist problematisch

Radioaktive Abfälle, die beim Uran-Abbau und bei der Herstellung von Kernbrennstoffen entstehen, die Wiederaufarbeitung von verbrauchten Kernbrennstoffen, diverse nukleare Verteidigungsprogramme und die Verwendung von verschiedenen Quellen ionisierter Strahlung – dies alles führt in unserem Lande zu einer Strahlenbelastung von etwa 2,8 Milliarden Curie (ein Curie entspricht 36 Milliarden Bequerel). Besonders schlimm sind hier das Sibirische Chemische Kombinat (eine Wiederaufbereitungsanlage) in Tomsk 7, das Kombinat für Bergbau-Chemie in Schelesnogorsk und die Produktionsvereinigung Majak bei Tscheljabinsk im Ural, ebenfalls eine WAA. Dort kam es im Jahre 1957 zu der katastrophalen Explosion radioaktiver Abfälle, die Hunderte von Quadratkilometer Land dauerhaft verstrahlte und sogar die sowjetischen Behörden zur Umsiedlung mehrerer 10.000 Menschen zwang.

Eine ähnlich Explosion ist weiterhin möglich. Beim Umgang mit festen radioaktiven Abfällen wird deren Gehalt an Plutonium und Transuran-Elementen in Rußland nämlich praktisch nicht berücksichtigt. Besonders bedrohlich erscheint in unseren Atom-Unternehmen die Konzentration radioaktiver Abfälle unter offenem Himmel. So lagern im Majak- Komplex flüssige radioaktive Abfälle in offenen Becken, deren Grundschlamm Dutzende Kilogramm Plutonium enthält. Kettenreaktion nicht ausgeschlossen.

Für das Iran-Geschäft ist aus alledem nur ein Schluß möglich: Wenn ein Land schon die Atomenergie zu nutzen wünscht, dann sollte es auch die Folgen dieses Entschlusses selbst verdauen. Ich spreche hier nicht nur über den Vertrag zwischen Rußland und dem Iran. Der internationale Handel mit Kerntechnologien sollte überall für ungesetzlich erklärt werden – als unmenschliche Geschäft steht er außerhalb des Weltgesetzes, weil er dem Wohlergehen unserer Erde schadet.

Wladimir Michailowitsch Kusnezow, 39, war als jüngster Inspektor der staatlichen Behörde für Atomaufsicht (Gosatom) der Russischen Föderation für den Raum Moskau zuständig. Heute ist er Direktor des „Russischen Informationsanalytischen Zentrums zur Unfallverhütung in Unternehmen der Atomenergie“ im Rahmen der „Internationalen Tschernobyl-Stiftung für Sicherheit“.