Die oft widrigen Sehnsüchte der Adoleszenz

■ Larry Clark fing in den Sechzigern als Babyfotograf in Tulsa, Oklahoma, an und wurde mit seinen „Schnappschüssen“ aus der großen Zeit des Underground bekannt

Es wird ihm nicht leichtfallen, nach „Kids“ wieder zur Fotografie zurückzufinden. Aber die Goldene Palme wird Larry Clark für den Film kaum bekommen – schwer vorstellbar, daß sich die Jury, der unter anderem Nadine Gordimer, der italienische Regisseur Gianni Amelio („Lamerica“), aber auch Amerikas Trash-Komödien-Spezialist John Waters angehören, für einen derart inkorrekten Film entscheiden wird. Denn „Kids“ handelt nicht von einer hoffnungsfroh ins Angestelltendasein fortschreitenden Jugend, „Kids“ ist der Versuch, umherschweifende Teenager in der Großstadt abzubilden, und das heißt: eine Aneinanderreihung von Sex, Drogen, Gewalt und Skateboardfahren. Nichts weiter.

Seine Lust, möglichst nah an der Haut die oft widrigen Sehnsüchte und Realitäten der Adoleszenz einzufangen und abzubilden, ist bereits in Fotoarbeiten von Larry Clark aus den frühen sechziger Jahren festgehalten. 1943 in Tulsa geboren und später nach Oklahoma übergesiedelt, lernte der Fotograf sein Handwerk zunächst im Atelier der Eltern. Mit 18 Jahren arbeitete Clark als professioneller Babyfotograf, nachts ging er auf Motivsuche in der Beat-Szene. Seine ersten Fotos, die 1971 in dem Sammelband „Tulsa“ erschienen, sind wie ein soziologisch kaum durchdringbares Geflecht aus Binnenwahrnehmungen der damaligen Underground-Kultur: Jugendliche, die Heroin drücken oder geistesabwesend mit dem 44er-Revolver spielen, als wäre er das eigene Geschlecht; Teenager-Grüppchen beim Sex auf fleckigen Matratzenlagern – schläfrig und melancholisch, aber immer selbstsicher vor der Kamera. Eine Mischung aus Angst, Geilheit und orientierungsloser Zufriedenheit.

„Es waren Schnappschüsse“, hat Larry Clark 1992 rückblickend über seine Kommunen- und Drogenzeit in einem Interview (taz, 11.11. 1992) gesagt, „mich interessierten die Gesten und Haltungen der Leute nur als Augenblick, der im Foto übrigblieb. Erst die nächste Generation hat das alles als Wirklichkeit interpretiert.“ Trotz Aids hat sich an diesem Lebensstil seit den achtziger Jahren nicht viel verändert. Während Nan Goldin mit ihren Fotografien ein Szene- Tagebuch über das Schicksal der Personen führt, denen sie sich behutsam zu nähern versucht, bleiben Clarks Bilder grob und ungeschlacht – vielleicht weil er Leid und Exzess nicht voneinander trennen will.

Heute sind es Punks und Skateboarder, die den graubärtigen, mittlerweile cleanen 52jährigen magisch anziehen. Für seinen Fotoband „Die perfekte Kindheit“ (1993) hat er sie in ihren Jugendzimmern, unter der Dusche oder beim ersten Blow-Job aufgenommen, dazwischen reihen sich Teenage-Idole wie Matt Dillon, River Phoenix oder der ehemalige Pornostar Tracy Young an Posterwänden. Am meisten verblüfft daran, daß heute die Gesichter der Filmhelden mehr und mehr denen der tatsächlichen Kids ähneln.

Diese Angleichung von Kunst und Leben führt in „Kids“ dazu, daß Clark sämtliche Rollen mit Laien besetzt hat und einen Highschool-Absolventen, der selbst begeisterter Skateboardfahrer ist, das Drehbuch schreiben ließ, weil es nur so „von innen kommen konnte“, wie Clark sein obsessives Interesse an der Wirklichkeit gerne und häufig formuliert.

Für einen Großteil der Kritik liegt in dieser Selbstverständlichkeit der Skandal: Man kann die Spielhandlung nicht von der Realität unterscheiden. Wollen 15jährige nur Sex? Zum einen dies. Zum anderen ist „Kids“ immer noch ein – wenn auch naturgetreu – erzählender Film, bei dem Clark sich an Filmemachern wie John Cassavetes und dessen „Killing of Chinese Bookie“ oder „My Private Idaho“ von Gus van Sant orientiert hat, der für „Kids“ die Koproduktion übernahm. Letztes Jahr war es Quentin Tarrantino, der mit den selben Vorbildern im Kopf sein „Pulp Fiction“ realisierte. Bei Clark ist eine Art „Pulp Documentary“ herausgekommen. Harald Fricke