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: Im Strudel der Massen

■ Das Revival sozial vertäuter Filme im verregneten Cannes

Interessanterweise hängt ein erheblicher Teil des Glamours von Cannes ganz offensichtlich am Wetter: Gestern regnete es Hunde und Katzen, und da machte das Defilieren gar keinen rechten Spaß. Die Leute, die man trotzdem noch hartnäckig den roten Teppich hinaufklettern sah, waren – Politiker!

Ein rechtes Wimmeln und Wuseln herrschte auch in Philip Haas' „Angels and Insects“, einer Art Historienfilm, der die Darwinschen Theorie umspielt. Da könnte sich für das Kino etwas auftun, was Philip Ariés für die Soziologie macht: die Privatgeschichte der großen Glaubenssätze auffälteln. „Angels and Insects“ beginnt beim Tanz um ein Lagerfeuer, wildbemalte Pobacken umschwirren einen weißen Mann, der ein bißchen unterirdisch mit den Augen funkelt, aber ansonsten seinem zurückhaltenden Naturell treu bleibt. Überblendung der Pobacken in einen Walzer: William ist back in Neuengland, es hat seinem Gönner Alabaster ein paar Schmetterlinge mitgebracht und erhält im Gegenzug dafür dessen blonde Tochter, mit der irgendwas nicht ganz okay ist.

Mit der Hausdame Matty züchtet er Ameisen, der Ehe mit der weißen Tochter entspringen unendlich viele weiße Kinder, die irgendwie unappetitlich anzusehen sind. Ganz spät im Film stellt sich heraus, daß sie nicht von ihm sind, sondern dem adelseigenen Inzest. Guter Sex, so lernen wir, ist der, der einer guten Sache dient – und das muß nicht immer die Kindererzeugung sein. Hier ist es die Höherentwicklung der Spezies, gemeinsam mit der Frau, mit der er ohnehin zusammengearbeitet und all die Sachen gemacht hat, die ihm eigentlich Spaß machen – und daß man sich dafür ein bißchen zusammennehmen sollte, liegt ja wohl auf der Hand.

Was wäre über „Beyond Rangoon“ zu sagen, außer daß Patricia Arquette wirklich aufpassen sollte, was sie mit ihrer Karriere macht. Vielleicht, daß er von John Boorman stammt, dessen Film „Deliverence“ in ein echtes Herz der Finsternis führte (das zu Hause in den Sümpfen bei Louisiana nämlich) und zu dem Besten gehört, was in Sachen Vietnam aus Amerika kam. „Beyond Rangoon“ bestätigt die Tendenz, die von den Cahiers erstaunlich wohlwollend verzeichnet wird: daß man dem diesjährigen Wettbewerb in Cannes das Bemühen des Kinos anmerkt, sich wieder mehr sozial zu vertäuen, um einen als schmerzlich empfundenen Bedeutungsverlust wieder einzuholen.

Eine Amerikanerin versucht während diverser brutal niedergeschlagener Großdemonstrationen in Burma ihren Schmerz zu vergessen. Es gelingt ihr, indem sie kurz im Strudel asiatischer Massen badet („You're a healer!“), mit Floßfahrt, Blutbad und dem unbedingt notwendigen Satz: „This is crazy, I need to call the embassy“, der in all diesen Filmen vorkommt. Der Unterschied zu Unternehmungen wie Gianni Amelios „Lamerica“, aber auch Peter Weirs „The Year of Living Dangerously“: Deren Massen dienen keiner Katharsis, die Protagonisten im Fokus sind keine Engel über Insektenlandschaft. Jennifer Jason Leigh war da, um ihren Film „Georgia“ vorzustellen (Ulu Gosbard hat ihn inszeniert, aber es ist trotzdem ihr Film), der sich leider nicht entscheiden konnte, ob er ein Musikfilm werden wollte oder ein Tennessee-Williams-Roadmovie. Leigh, die übrigens beängstigend dünn geworden ist, spielt Sadie, eine Nachtcafé-Schlampe, die ihrer Schwester Georgia deren Musikerinnenkarriere neidet. Die einzige gute Nummer ist ein gemeinsamer Auftritt, bei dem Leigh den Lou Reed zu Georgias Emmilou Harris gibt und einfach ein bißchen bellt, mit maskaraschwarzen Augen. Ansonsten fehlte es dem ganzen an Soul, in jeder Beziehung. Mariam Niroumand