Stadt mit Metropolenanspruch

Die deutsch-deutsche Einigung hat die Immigranten Berlins an den Rand gedrängt. Das multikulturelle Image der Stadt lebt von der Selbstinszenierung und von Hochstapelei  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

Berlin in einer Serie über Mega- Cities? Das ist, als würde ein Opel Ascona in ein Formel-1-Rennen geschickt. Weder bietet die Hauptstadt das wirre Chaos der Zehn- Millionen-Metropole Istanbul noch das Ausmaß an Desintegrationserscheinungen der Pariser Vorstädte. Weit entfernt von der Weltoffenheit Amsterdams und der Anarchie Sankt Petersburgs ist Berlin allen Metropolenbeschwörungen zum Trotz eine etwas aus den Fugen geratene Kleinstadt in der märkischen Wüste.

Wer im Frühjahr 1995, von Madrid, London, Rom oder Athen kommend, auf dem Flughafen Berlin-Tegel eintrifft, mit dem Taxi Richtung Kurfürstendamm fährt, ist überrascht – beschauliche Kanäle, gepflegte, blühende Parkanlagen, übersichtliche Häuserblocks, fließender Verkehr. Kurz: statt urbanem Leben findet der Besucher geordnete, wohlgenährte Kleinbürgerlichkeit. Daran ändern auch die Klagen der Berliner über Kriminalität, Baustellen, Obdachlosigkeit, steigende Mieten und Verkehrskollaps nichts; ebensowenig der Kulturschock, den der Berlintourist aus der westdeutschen Provinz hin und wieder erleidet, wenn er Kreuzberg zwischen dem Heinrichplatz und Oranienplatz durchwandert, wo Berlin, so will es die Legende, angeblich am autonomsten, am türkischsten und am tückischsten ist.

Berlin hat noch jeden enttäuscht, der die mit viel Historie und weltpolitischer Bedeutung aufgeladenen Fernsehbilder für bare Münze genommen hat. Die Stadt lebt von der Selbstinszenierung – und von Hochstapelei. Gern präsentiert sie sich als das kulturelle Zentrum Deutschlands und als die Stadt, die wie keine andere im Land von Immigranten geprägt wird. Sicherlich, die Zahl von 420.000 in Berlin lebenden Ausländern hört sich für einen Augsburger beeindruckend an – schließlich sind das mehr, als seine Stadt Einwohner hat. Aber mit einem Ausländeranteil von gut zwölf Prozent belegt Berlin als Einwanderungsstadt lediglich einen Mittelplatz unter den bundesdeutschen Großstädten – hinter Heilbronn und Pforzheim.

Wer sich der Stadt von Osten kommend nähert, in der Erwartung, auf Spuren des vor wenigen Jahren beschworenen großen Trecks der Armutsflüchtlinge aus den ehemaligen sozialistischen Bruderländern zu stoßen, wird erneut überrascht. Die großen geopolitischen Umwälzungen seit 1989 haben das Straßenbild und das Alltagsleben der Berliner wenig verändert. Sie schlagen sich eher in der Polizeiberichterstattung der großen Zeitungen nieder, wenn von den Aktivitäten der chinesischen, russischen, polnischen, rumänischen oder vietnamesischen Mafia die Rede ist.

Im Juni 1990, wenige Wochen vor der Währungsunion, löste die östlichste der westlichen Großstädte für einen kurzen Sommer tatsächlich ihren Metropolenanspruch ein. Die in Bewegung geratenen Menschen Ost- und Südosteuropas verwandelten das langweiligste und ödeste innerstädtische Zentrum Deutschlands, den Alexanderplatz, zum Schrecken vieler Berliner kurzfristig in eine Freihandelszone: Zigeuner musizierten, vietnamesische Habenichtse verkauften unverzollte Zigaretten und tauschten Ost- gegen Westmark, Polen versetzten ihr Tafelsilber, Russen Kaviar und Rumänen Holzarbeiten. Aber seit der Bundesgrenzschutz achtzig Kilometer östlich der Stadt Stellung bezogen und die Maschen der Schlupflöcher an der Oder und Neiße enger gezogen hat, ist Berlin wieder zur alten Ordnung zurückgekehrt.

Berlin als Einwandererstadt durchlebt seit der Vereinigung beider Stadthälften ambivalente Entwicklungen. Zwar stieg die Zahl der in Berlin lebenden Ausländer seit 1989 von rund 300.000 auf 420.000, dennoch stärkte die West- und Osterweiterung der Stadt die Dominanz des Deutschen. Folglich verlieren die innerstädtischen Bezirke, denen die aus dem Süden Europas und dem Nahen Osten stammenden ethnischen Minderheiten ihren Stempel aufdrückten, für das Selbstverständnis der Stadt an Bedeutung.

Der Einfluß der „alten“ Immigranten bei der Gestaltung des städtischen Raumes wird geringer. Nichts deutet darauf hin, daß sich der vitale Prozeß zwischen den sechziger und achtziger Jahren, als vor allem die „türkische Kolonie“ die Infrastruktur der innerstädtischen Bezirke in die Hand nahm, wiederholen könnte; als sie überall dort, wo Supermarktketten, Großbäckereien, industrielle Massenproduktion und der Wegzug der deutschen Kundschaft deutsche Kleingewerbetreibende zur Aufgabe zwangen, neue Dienstleistungsbereiche – Flickschneidereien, Gemüseläden, Friseure, Metzgereien und so weiter – errichteten.

Die Zuwanderergruppen der neunziger Jahre – Polen, Vietnamesen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien – mögen für Negativschlagzeilen gut sein; eine den türkischen, arabischen und palästinensischen Zuwanderern vergleichbare Erweiterung des Berliner Lebens werden sie nicht leisten. Zwar werkeln Tausende von polnischen Bauarbeitern am Hauptstadtausbau mit und lehren mit Dumpinglöhnen die einheimischen Kollegen das Fürchten, aber die rotierenden Kontingentarbeiter bleiben meist unauffällig, leben in ihren Wohncontainern, immer auf dem Wochenendsprung in die Heimat.

Aussichtslos sind die Versuche der rund 25.000 in Berlin lebenden Vietnamesen – davon sind 7.500 melderechtlich registriert –, in der Stadt Wurzeln zu schlagen. Mehrheitlich mit keinem gültigen oder mit unsicherem Aufenthaltstitel ausgestattet, leben sie stets in der Gefahr, schon bald wieder gegen ihren Willen in ihre Heimat abgeschoben zu werden. In der Zwischenzeit bleibt ihnen lediglich die Kleinkriminalität, der Handel mit unverzollten Zigaretten, um ein wenig Kapital für die nächste Zukunft zu akkumulieren – und die blutrünstige Schlagzeile, wenn es in einem der von ihnen bevölkerten Wohnheime wieder zu einem gräßlichen Massaker kam. Haben sich die vietnamesische und die bundesrepublikanische Regierung erst einmal über die Höhe des „Kopfgeldes“ für jeden abzuschiebenden Vietnamesen geeinigt, wird auch dieses Kapitel der anarchischen Einwanderung zur Freude der Tabakhändler Geschichte sein.

Die Verschiebung der Dominanzverhältisse zugunsten des „Deutschen“ seit 1990 bekommen vor allem die Jugendlichen aus den Immigrantenfamilien, genauer die Berliner Türken, Libanesen und Palästinenser aus den unteren sozialen und bildungsfernen Schichten, zu spüren. Sie fühlen sich an den Rand gedrängt. Nicht ganz zu unrecht. Den seit der Wiedervereinigung werden viele der Lehrstellen im Westteil der Stadt von Brandenburger und Ostberliner Jugendlichen besetzt, Deutsche bevorzugt eingestellt. Die Immigranten sind nicht nur die eigentlichen Einheitsverlierer – die Arbeitslosenquote unter ihnen beträgt bereits 25 Prozent –, sie büßen auch sprichwörtlich an Boden ein. In diesem Zusammenhang wäre ein Verbot des Grillens im dem Reichstag und dem Schloß Bellevue gegenüberliegenden Tiergarten mehr als nur eine Provinzposse. Es ist der Versuch, das vor allem von türkischen Familien okkupierte Naherholungsgebiet den „Fremden“ zu entreißen und wieder zu einem repräsentativen, deutschen Park zu machen.

Die nachwachsende Generation Westberlins, die für sich in den letzten Jahren hoffnungsvolle, transnationale Synthesen des Zusammenlebens und -liebens entwickelte, sucht nach einem neuen Standort in der veränderten Stadt. Die Altersgruppe der im interkulturellen Milieu aufgewachsenen Vierzehn- bis Zwanzigjährigen – egal ob nun deutscher oder nichtdeutscher Herkunft – ist es, die den Osten am nachhaltigsten meidet. Es ist nicht nur Angst, Opfer eines rassistischen Übergriffs zu werden, was sie davon abhält, allzu tief in den Osten vorzudringen. Es ist das körperliche Unbehagen, das undefinierbare Fremdheitsgefühl, das sie bei einem Ausflug nach Marzahn, Hellersdorf oder nach Pankow befällt. Sie treffen dort auf die Spätfolgen eines Deutschland, in dem die zwischen 1933 und 1945 gewaltsam herbeigeführte ethnische, weltanschauliche und religiöse Homogenität – trotz vierzig Jahren Sozialismus – konserviert wurde. Die gehemmte Körperlichkeit, die spürbare (Selbst-)Disziplin und Verklemmtheit vieler Menschen, das hat wenig von der mediterranen Expressivität, die die Westberliner Gesellschaft inzwischen durchzieht.

So friedlich sich Berlin heute im internationalen Vergleich noch zeigt – in dem Mangel an Integrationsangeboten (nicht nur) für Neuankömmlinge in der Stadt liegen Potentiale eines Tribalismus. An den Rändern der Einwanderungsgesellschaft zeigen sich bereits die Auswirkungen der Rückschritte gegenüber der jüngeren Westberliner Vergangenheit. Gruppen, denen die Bedingungen für individuelle Emanzipation fehlen, die sozial und ökonomisch chancenlos sind und gezwungen werden, das Nord-Süd-Gefälle in der Stadt auszutragen, klammern sich an rückwärtsgewandte Ideologien und Identitäten.

Die zunehmende Begeisterung eines Teils der Jugendlichen aus türkischen Familien für extremistische Gruppen ist beunruhigend. Ihre inflationäre Klage über Rassismus und Ausgrenzung ist auch Trauer über den Verlust der in den siebziger und achtziger Jahren errungenen Hegemonie und Dominanz in Stadtteilen wie Kreuzberg. Der Ausgang dieser Entwicklung ist offen.