Hingehen, wo man hingehört

■ Mit „Paris, Texas“ war der amerikanische Traum ausgeträumt. Löst sich Wim Wenders' Westbindung? Ein Gespräch zu seinem neuesten, voll ins Sehphilosophische lappenden Film „Lisbon Story“, der ab nächste Woche in den Kinos zu sehen sein wird

Vier Filmprojekte gab die Kulturstadt Lissabon 1994 in Auftrag, einer davon sollte ein Dokumentarfilm von Wim Wenders werden. Während der Dreharbeiten entwickelte sich das Ganze aber zu einem selbstproduzierten Spielfilm: Der Toningenieur Phillip Winter sucht seinen Freund, den Regisseur Friedrich Monroe, der in Lissabon beim Drehen in eine Krise geraten ist. Diogenesmäßig hockt er in einer Isetta und denkt über die Wahrheit in den Bildern nach. Es kommt, auch von seiten einiger altkluger Euro-Kinder, zu sehphilosophischen Äußerungen. Himmel, Häuser und Straßenverläufe nehmen sich dabei aber erfreulicherweise wieder so ein bißchen wie früherer Wenders aus: einfaches, undogmatisches Schlendern, unterbrochen von Abblenden aus der Stummfilmzeit (100 Jahre Kino!) Einige folkloristische Elemente verleihen der Story jene schwere Euro-Süße, die einem Leiter der Europäischen Filmakademie und Gatt-Lobbyisten wohl zusteht. Der Film ist ab nächsten Donnerstag in den Kinos zu sehen.

taz: Was hat Sie an Lissabon interessiert?

Die Stadt ist mir sehr nahe, seit ich 1980 dort „Der Stand der Dinge“ und 1990 „Bis ans Ende der Welt“ gedreht habe. Beide Male hatte ich das Gefühl, ihr herzlich wenig gerecht geworden zu sein, weil es bei den Dreharbeiten um alles mögliche ging, aber nicht um die Stadt. Als ich dann von einem portugiesischen Produzenten angesprochen wurde, war ich sehr froh, denn die Dreharbeiten für den Antonioni-Film sollten erst im Dezember beginnen, so daß ich gerade Zeit hatte.

Lissabon sitzt auf der Nase von Europa, von Europa getrennt durch eine Halbinsel. Die jahrhundertelange Feindschaft mit Spanien hat dazu geführt, daß die Stadt sich nach Westen orientiert hat, nach Amerika, zum Meer hin, nach Afrika, Asien, und eigentlich erst seit den siebziger Jahren nach Europa. Sie hat keine Kriege gekannt, dafür aber eine glorreiche koloniale Vergangenheit. Es ist eine Hafenstadt, und wie alle Städte am Meer hat sie ihr eigenes Klima. Sie liegt auf Hügeln, hat bestimmte Gerüche, Farben und ein ganz bestimmtes eigenes Licht, das es im Binnenland nie gibt. Eine kleine Straßenbahn, die sich die Hügel raufwindet, diese Sprache, die man kaum verstehen kann. Lissabon ist fast wie eine verwunschene Stadt. Als ich das erste Mal hinkam, schien sie noch zu schlafen. Inzwischen ist sie aufgewacht und begibt sich in ihre europäische Zukunft. Trotzdem gibt es noch ganze Viertel, wo die Handwerker leben und wo noch alles von dieser Unmittelbarkeit ist, so nah, nicht entfremdet, das gibt es sicher nicht mehr lange, diese bröckelnden Oberflächen mit ihren Farben und dem Putz dahinter. Ganz viel möchte man einfach nur einrahmen und mitnehmen, aber dann sieht es natürlich nicht mehr aus.

Die Stadt hat mich erinnert an viele Städte, die ich in meiner Kindheit im Deutschland oder Österreich der fünfziger Jahre sah, in denen alles längst verloren war, was es in Lissabon noch gab.

Früher war Amerika in Ihren Filmen immer sehr präsent; kein Film ohne mindestens einen amerikanischen Freund. Das ist seit einiger Zeit verschwunden. Statt der Jukebox sieht man nun die Siegessäule. Ist Ihnen die Westbindung verlorengegangen?

Diesen amerikanischen Traum habe ich schon als Kind geträumt, als Filmemacher dann weiter. Durch meine sieben Jahre Leben in Amerika habe ich ihn exorziert. Mit „Paris, Texas“, dem letzten Film, den ich dort machte, habe ich dem Traum ein Ende gesetzt, eine Geschichte zu Ende erzählt. Ich war froh, daß ich mich, nach diesem langen Umweg, auch als Deutschen habe akzeptieren können, auch als Europäer in meinem Beruf. Ohne jede Reue habe ich Amerika verlassen, wissend, daß es für immer war und daß sich diese enorme emotionelle Traumbindung an Amerika nicht wieder einstellen wird.

Wie ist das aber passiert?

Ich war an einem Punkt angelangt, wo ich vor der Entscheidung stand, mich entweder völlig vereinnahmen zu lassen und tatsächlich Amerikaner zu werden oder zurückzugehen, weil ich im Kopf eben doch nicht Amerikaner sein kann. Ich konnte auch die Arbeit, die ich machen will, dort nicht machen, weil sie nicht geschätzt wird, wenn sie nach meinen Maßstäben gut ist. Unter einem Filmemacher versteht man dort etwas anderes.

Für mich ist Filmen Teil eines Such- oder Denkvorgangs, von mir aus auch eines aufklärerischen Vorgangs. In Amerika muß der Film am ersten Drehtag eigentlich komplett sein, exakt definiert, das Drehen selbst ändert daran meist nicht mehr viel, da liegt schon fest, was das wird. Gerade das will ich nicht. Ich möchte, daß der Film und alle, die daran arbeiten, die Möglichkeit haben, auf seinem Weg zu lernen und zu wachsen und, wenn nötig, auch andere Weichen zu stellen, sich in eine ganz andere Richtung zu entwickeln. In Amerika ist der Film an das Blueprint gebunden, an die Konstruktionszeichnung, an das Drehbuch.

So europäisch ist meine Methode übrigens gar nicht. Nicholas Ray hat mir erzählt, daß er ebenso gearbeitet hat. Aber weder er noch Cassavetes könnten es heute noch so halten. Dann wieder gibt es heute natürlich sehr viel mehr unabhängige Produktionen als damals in den frühen Achtzigern, heute werden die wichtigsten Filme ja an den Studios vorbei produziert. Warum also nicht hingehen, wo man hingehört? Wo man das, was man gut kann, auch machen kann? Ich habe auch meine Green Card zurückgegeben. Die Entscheidung, aus New York nach Berlin zurückzugehen war eine der wenigen Sachen in meinem Leben, an denen ich nie eine Sekunde gezweifelt habe.

Die Rückkehr nach Europa, so scheint es, hat auch Ihr Selbstverständnis umgekrempelt: Vom Autor zum Euro-Film-Lobbyisten?

Dieser Wechsel hängt eher mit einem veränderten Zeitgefühl zusammen, den Veränderungen der Kinolandschaft, der Filmindustrie, des Berufs. Und das Autorenkino, für das die deutschen Autoren geradezu sinnbildlich waren, so wie früher einmal die Franzosen oder die Italiener, ist ein Modell, das sich durch die Entwicklungen der audiovisuellen Industrie ein bißchen überlebt hat. Was früher jemand alleine konnte, geht heute nur noch in Teamwork und mit enormer Spezialisierung. Und weil das europäische Kino durch so eine schwere Krise geht, müssen viele Filmemacher, nicht nur ich, auch Leute aus anderen europäischen Ländern, sich eben jetzt um administrative Funktionärsarbeit kümmern, vor der man vor zwanzig Jahren nicht einmal geträumt hätte. Gleichzeitig ist jemand, der heute seinen ersten Film macht, in einer völlig anderen Situation als wir noch waren, wir konnten unglaublich viel naiver sein. Wer heute nichts über „completion bonds“ [unverständliches Finanzierungsmodell, d. R.], Subventionsformen oder Koproduktionen weiß, hat überhaupt keine Chance.

In Edgar Reitz' Film „Die Nacht der Regisseure“ sagen Sie, daß das deutsche Publikum das Vertrauen in die eigenen Bilder verloren hat. Was meinen Sie mit „eigenen Bildern“, woran erkennt man ein „deutsches Bild“?

Ich meine Bilder, Geschichten, von ihnen selbst, von Deutschen über Deutsche, ich glaube, da gibt es ein ganz grundsätzliches Mißtrauen, Resultat eines jahrelangen Mißbrauchs in den dreißiger Jahren und dann nach dem Krieg, als das amerikanische Kino nirgendwo in Europa präsenter war als in Deutschland, im anderen Teil Deutschlands eben die sowjetische Kultur. Die Deutschen sind eben eine lange Zeit von Bildern enttäuscht oder fremdgeleitet, so daß sie jetzt fremden Bildern mehr trauen. Ich bin völlig sicher, daß „Schindlers Liste“ von niemandem in Deutschland gesehen worden wäre, wenn das ein Deutscher gedreht hätte, oder auch, wenn es ein Europäer, jemand wie Andrej Wajda gedreht hätte, der vom Stil her den Film durchaus hätte drehen können. Es mußte das Siegel „Spielberg und amerikanisches Studio haben“, damit sich die Deutschen darauf einlassen. Die amerikanische Kultur ist eben in der Lage, dieses Unbehagen der Deutschen, sich selbst anzuschauen, aufzuheben. Sie haben hinterher gemerkt, daß sie auf den Leim geführt worden sind ...

... nicht ganz ungern allerdings, oder?

Das muß schon ein Schock gewesen sein, zu sehen: Es war alles falsch. Die Komödien, unsere geliebten Schauspieler, selbst unsere Steptänzer – es war eigentlich eine einzige große Verleumdungsmaschinerie, ein einziger großer Humbug, der uns davon abhalten sollte, die Wahrheit zu sehen.

Mochten Sie „Pulp Fiction“?

Tarantino ist ein unglaublich intelligenter, virtuoser Filmemacher. Inhaltlich habe ich dann Schwierigkeiten, nicht so sehr mit ihm selbst, als viel mehr mit seinen Nachahmern. Aus seinem Drehbuch für „Natural Born Killers“ wird bei Oliver Stone ein Machwerk. Ich würde mir weder „Reservoir Dogs“ noch „Pulp Fiction“ ein zweites Mal angucken, weil es da Dinge gibt ... Mit „Natural Born Killers“ hatte ich tagelang zu kämpfen, da habe ich mich nachher geärgert, daß ich das mitgemacht habe. Selbst als Fünfzigjähriger, der ich ja nun inzwischen bin, trägt man da Wunden davon, die davon rühren, daß man etwas gesehen hat, was man eigentlich nicht sehen wollte.

Das Gespräch führte Mariam Niroumand