Menschen im Dazwischen

■ Bochum: Jean Eustaches „La Maman et la Putain“ vom Schauspielhaus ist eine doppelt gestrige Veranstaltung, aber doch so viel mehr als nur ein vertheaterter Film

Verfilmung eines Dramas ist Addition, Dramatisierung eines Filmes Subtraktion. Doch bei Jürgen Goschs Inszenierung von Jean Eustaches „La Maman et la Putain“ geht die Rechnung auf: Der Verlust des Kinos wird zum Gewinn für das Theater. Der französische Theaterregisseur Marinelli hat 1991, zehn Jahre nach Jean Eustaches freiwilligem Tod, in Lyon eine Theaterfassung von dessen 1973 gedrehtem Film „La Maman et la Putain“ herausgebracht, die nun die Grundlage für die Bochumer Inszenierung bildet.

Diesen selbst schon theaterhaften Schwarzweißfilm auf das Theater zu übertragen heißt, die für ihn wesentliche Differenz zwischen Medium und Form einzuebnen. Als Ausgleich ersetzt Gosch Eustaches kalkuliert amateurhaften Umgang mit den filmischen Mitteln durch einen scheinbar beiläufigen Inszenierungsstil. Alles wird nur mal eben so arrangiert, wie auf der Probe. Aus dem unfilmischen Film wird armes Theater. Außerdem gelingt es Gosch, seine Schauspieler zu einer dem Film vergleichbaren gelösten Intensität der Darstellung zu bringen. Und das ist im Theater mehr als im Film.

Wie die drei Hauptdarsteller in den dreieinhalb Stunden, die die Inszenierung ebenso beansprucht wie der Film, von witziger Lockerheit zu tragischem Pathos übergehen, wie die Distanz zu diesen Menschen auf der Bühne sich zu Vertrautheit und Nähe wandelt, ist eine Erfahrung, die nur im Theater möglich ist. Die Schwierigkeit dieser permanenten leiblichen Anwesenheit der Darsteller ist hier eine Hürde, deren Überwindung durch die Inszenierung für alle Verluste entschädigt.

Martin Feifel als Alexandre kopiert natürlich Jean-Pierre Léaud. Doch Imitation von Filmfiguren ist für diese Figur wesentlich. Er zeigt einen Menschen im Dazwischen, zwischen zwei Frauen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Revolte und Resignation, die Unentschiedenheit in Person.

Katharina Linder spielt Alexandres Geliebte Veronika keineswegs als Hure, sondern als zwischen Euphorie und Melancholie schwankende Frau, die sich in ihrer Wirkung auf Männer selbst verliert. Ihr großer Bekenntnismonolog, indem sie sich die Aufmerksamkeit erst erspielen muß, die der Figur nicht schon wie im Film durch die ununterbrochene Einstellung in Nahaufnahme gesichert ist, gewinnt sie eine Würde, die die Figurenkonstellation umkehrt. Sie wird zur eigentlichen Hauptfigur.

Auch Bernadette Vonlanthen, die als ältere Freundin Marie die Mutter im archetypischen Dreieck repräsentiert, hält sich von den Klischeevorstellungen fern. Sie hat nichts Betuliches, ihre Fürsorge ist sachlich, eine sich und andere kontrollierende Frau. Ihr „Bekenntnismonolog“ ist ein minutenlanges Schweigen, während sie mit dem Rücken zum Publikum Edith Piafs Chanson „Les amants de Paris“ anhört.

Alte Filme wiederanzusehen ist Nostalgie, alte Dramen neu zu inszenieren ist das Gegenteil. Einen alten Film im Theater zu zeigen, setzt ihn der dem Theater eigenen Forderung nach Aktualität aus. Eustaches Film war 1973 ein Ereignis und ein Erfolg, weil er ein Zeitgefühl traf: die Erinnerung an die 68er Revolte und die Vorahnung kommender Restauration, den Zustand zwischen Aufbruch und Weiter so. Insofern ist die Bochumer Inszenierung heute eine durch und durch gestrige Veranstaltung: doppelte Nostalgie.

Dem wirkt jedoch das Theater selbst entgegen. Die sinnliche Präsenz der Schauspieler fegt alle Erinnerungen hinweg und eröffnet den Zugang auch für diejenigen, für die der Film nur ein Zeitdokument der Vorväter wäre. „La Maman et la Putain“ wird auf der Bühne zu einer Studie über Verführung, Eifersucht, Verzückung, Erwartung, Wollust, Redseligkeit, Überschwang und Überdruß, zu einem Essay über alle Fragmente einer Sprache der Liebe. Gerhard Preußer

„La Maman et la Putain“ von Jean Eustache (Regie: Jürgen Gosch, Schauspielhaus Bochum, 3 Std. 40 Min, m.P.) am 22.5., 19 Uhr und 23.5., 19 Uhr (anschließend Publikumsgespräch), Kammerspiele des Deutschen Theaters, Schumannstraße 13a, Mitte. Theatergespräch am 23.5., 13 Uhr, im Theaterzelt vor dem DT.