„Jetzt kommt die Generation Chirac“

■ Auf den Pariser Champs-Élysées feierten junge Fans des neuen Präsidenten am Sonntag abend das Ende der Ära Mitterrand

„On a gagné“, wir haben gesiegt. Der Schlachtruf aus der Sprache der Sportfans hallt vom Arc de Triomphe über die Champs-Élysées und die Tuilerien schnurgerade hinüber zum Rathaus von Paris, wo der frisch gewählte Präsident seinen bisherigen Amtssitz hat. Kaum sind die Umrisse von Jacques Chirac auf den Bildschirmen erschienen, haben sich Zigtausende auf die Straße begeben. Laut hupend fahren sie durch den dichten Verkehr, drängeln sich in Gruppen über die hell erleuchteten Straßen. Sie schwenken die Trikolore, haben Gesicht, Brüste und Po mit dem Apfel – Chiracs Wahlkampflogo – beklebt und umarmen alle, die ihnen über den Weg laufen.

Um elf Uhr abends, drei Stunden nach Bekanntwerden des Ergebnisses, ist die Prachtstraße voller Menschen. Fast alle sind jung, sehr jung. Dazwischen flanieren Familien durch die laue Frühsommernacht. „Die Ära Mitterrand ist vorüber“, ruft ein Zwanzigjähriger von einem offenen Jeep herunter, „jetzt kommen wir, die Generation Chirac!“

Chiracs Wähler sind jung, viel jünger als bei seinen beiden letzten Anläufen 1981 und 88, als er gegen François Mitterrand unterlag. Seine stärksten Wählergruppen sind heute die unter 35jährigen und die über 50jährigen, darunter entschieden mehr Arbeiter und kleine Angestellte als früher. Seine Hochburgen ziehen sich quer durch das Land. Sie decken sich mit den traditionell konservativen Gebieten im westlichen Zentrum und im Osten des Landes, liegen östlich und westlich vom Pariser Becken und im gesamten Stadtgebiet – außer dem 20. Arrondissement, wo Lionel Jospin einen knappen Vorsprung hatte. Chirac hat aber auch die Mittelmeerküste erobert; in Marseille und Nizza, wo der Rechtsextremist Le Pen im ersten Durchgang stärkster Kandidat wurde, gewann jetzt Chirac über 50 Prozent der Stimmen. Auch im Elsaß und in Lothringen gelang es dem Neogaullisten, die gespaltene Rechte hinter sich zu vereinigen, was Mitterrand bei früheren Wahlen zu verhindern gewußt hatte.

Trotz der „persönlichen“ Entscheidung ihres Führers Le Pen, sich zu enthalten, stimmten am Sonntag 55 Prozent der Front-National-Wähler für Chirac, 25 Prozent gaben ihre Stimme Jospin. Der Empfehlung von Le Pen wurde nur stellenweise gefolgt, so in Metz, einer Front-National- Hochburg, wo 26 Prozent der Wähler ungültig stimmten. Landesweit war die Wahlbeteiligung mit über 80 Prozent unerwartet hoch, und die Enthaltungen lagen niedriger als befürchtet. Von den Wählern der beiden anderen konservativen Kandidaten, Edouard Balladur und Philippe de Villiers stimmten drei Viertel für Chirac.

Lionel Jospin gewann dort, wo Sozialismus und Kommunismus traditionell stark sind: im Norden des Pariser Beckens, im einstigen Minengebiet an der Grenze zu Belgien und im teils hochindustrialisierten Südwesten des Landes. In diesen Regionen, besonders in den Ballungsgebieten, kehrten auch viele Abtrünnige, die im ersten Durchgang die Front National gewählt hatten, zu dem Sozialisten zurück. Auch die trotzkistischen, kommunistischen und grünen Wähler entschieden sich überwiegend für Jospin.

Auf dem Platz der Eintracht (Concorde) auf halber Strecke zwischen dem Rathaus und dem Élysée-Palast spielen Spaltungen keine Rolle. Die Stimmung ist in dieser Nacht ausgelassen. „Seien wir einig, tolerant und brüderlich!“hat der neue Präsident in seiner Antrittsrede gesagt. Balladurianer tanzen mit Chiracianerinnen und Jospinistinnen mit Anhängern von Philippe de Villiers. Böse Töne gegen den unterlegenen Kandidaten kommen nicht auf. Für die Fernsehkameras halten ein paar Jungs ihre Stinkefinger gegen den scheidenden alten Mann im benachbarten Élysée-Palast hoch. Und wann immer jemand das „Ende von 14 Jahren Sozialismus“ begrüßt, gibt's Beifall von der Menge.