Mythen unter dem Sandhaufen

■ Die Zukunft der Bunkeranlagen unter der ehemaligen Neuen Reichskanzlei ist noch immer ungewiß / Kritiker fordern "Tiefenenttrümmerung" des "beliebigen Schutzraums ohne jede Besonderheit"

Obwohl sie politische und geographische Unvereinbarkeiten trennte, in einem Punkt lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen den sozialistischen Preußen (aus der DDR) und konservativen Bayern finden: Die historische Topographie des Geländes mit Hitlers Neuer Reichskanzlei und deren Bunkeranlagen sollte ein für allemal abgeräumt und vergessen gemacht werden. Die ungeliebte Vergangenheit findet nicht mehr statt, so das Motto.

Schon vor dem Bau der Mauer ließ die DDR die Überreste des einstigen Regierungsviertels an der Voßstraße schleifen. Stück für Stück entledigte man sich auch nach 1961 von den baulichen Symbolen des Faschismus. Sektorenstreifengras wuchs über die Fundamente der ehemaligen Reichskanzlei. Endgültig dem Vergessen preisgegeben wurden der historische Stadtgrundriß und Hitlers Fahrerbunker – der übrigens unter der „alten“ Reichskanzlei an der Wilhelmstraße lag – als Mitte der siebziger Jahre jene achtgeschossigen Plattenburgen entstanden. Die Bunker- und Gebäudereste unter der Erde wurden dabei größtenteils zerstört.

Trug die DDR das ihre zum Untergang der Nazi-Bauten bei, so plädiert Bayern für die Beseitigung aller unterirdischen Rudimente. Die Münchener Staatskanzlei weigert sich, auf dem Areal ihre Landesvertretung zu errichten, sollte etwa ein nach dem Fall der Mauer entdeckter Führerbunker mit SS- Wandmalereien erhalten bleiben. „Die Bayern wollen ihre Landesvertretung wohl nur auf entnazifiziertem Gelände“, lästert Alfred Kernd'l, früherer Direktor am Archäologischen Institut Berlins und Fürsprecher eines Erhalts der Reste. In einem Gutachten von 1993 hatte Kernd'l bereits die Bedeutung des Bunkers hervorgehoben und den Senat aufgefordert, den Bebauungsplan für die Ländervertretungen zu stoppen. Bunker und Neubauten müßten gemeinsam entwickelt werden, so der Wissenschaftler. Eine Beseitigung der baulichen Reste, wie die Senatsbauverwaltung fordert, lehnt er ab.

Steht man an der Voßstraße und denkt sich unter den Sandhügel, unter dem sich einstmals ein großer Luftschutzkeller befand, fällt es leicht, sich von den Argumenten Kernd'ls um Vergangenheitsbewältigung und Sicherung der historischen Spuren überzeugen zu lassen. Das Gelände, so der Archäologe gestern, berge nicht nur historisch wichtige Überreste und Zeugnisse der nationalsozialistischen Geschichte, wie den SS- Fahrerbunker und den tiefer gelegenen Innenhof der Neuen Reichskanzlei. Vielmehr komme es darauf an, die vorhandenen Bauteile der Nazi-Zeit zu sichern, zu dokumentieren und angesichts des „Veränderungsdrucks“ freizulegen. Kernd'l: „Die auf dem Areal geplante lockere Bebauung der Ländervertretungen ließe sich gut mit den geschützen Bunkeranlagen in Übereinstimmung bringen.“ Die historischen Restsubstanzen aus der Nazi-Zentrale und die Neubauten könnten durchaus baulich miteinander in Dialog treten.

Schützenhilfe erhielt Kernd'l gestern von Albert Eckert, dem kulturpolitischen Sprecher der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Vergangenheitsbewältigung dürfe „nicht mit dem Abrißbagger“ erfolgen, ebensowenig stehe die „Spurenverwischung“ einer historischen Auseinandersetzung mit dem Regierungsgelände schlecht an, sagt der bündnisgrüne Politiker, der den Senat mit einem Antrag auffordern will, das unterirdische Ensemble unter Denkmalschutz zu stellen. Für Eckert, ebenso wie für Kernd'l bedeutet der Denkmalschutz „keineswegs, daß hier ein Museum oder eine Gedenkstätte entstehen müßten, oder daß an dieser Stelle nicht gebaut werden dürfte“. Der Fahrerbunker könnte gläsern überdacht werden, sollte „aber nicht begehbar gemacht werden“.

Doch welches Material beherbergen die Nazi-Reste wirklich? Und welche Bedeutung steckt in den Spuren? Schaut man sich die Wüstenei und ihre Reste tiefer an, ist man geneigt den Forderungen von Reinhard Rürup, Historiker und Mitglied der „Stiftung Topographie des Terrors“, nachzugeben. Im Grunde genommen, so Rürup, sei der SS-Fahrerkeller ein beliebiger Schutzraum ohne jede Besonderheit, dessen Fundamente keinen Schutz, sondern eher eine „Tiefenentrümmerung“ erfahren sollten.

Und nicht nur der Wert der Reste ist fragwürdig, meinen Kritiker in der Bau- und Kulturverwaltung. Fragwürdig sei auch der Umgang mit einem authentischen Ort, von dem die Geschichte so gut wie nichts übriggelassen hat. Die historische Bedeutung der Neuen Reichskanzlei, sagte eine Kunsthistorikerin auf dem Sandhügel, liege in der schrecklichen Zeit vor 1945. Ständen die Ruinen noch, könnten sie Chiffren für das Heute sein. Aber wo Ruinen soweit abgebröckelt sind, blühe nur noch der faschistische Mythos. Rolf Lautenschläger