Unheimlich viel Neugier im Osten

Die Anthroposophie etabliert sich in den neuen Ländern / Große Nachfrage nach Waldorfschulen und anthroposophischer Medizin  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Jeden Morgen passieren Dutzende Kinder auf ihrem Schulweg die Grenzen des Landes Berlin. Ihr Ziel ist die Freie Waldorfschule Kleinmachnow, ein Projekt von Zehlendorfer und Kleinmachnower Eltern. „Wir haben uns für die Schule entschieden, weil sie eine Nahtstelle zwischen Ost und West ist“, sagt Anke Kunkel, deren Tochter die zweite Klasse besucht. Zur Zeit der Wende begann sich die Erzieherin für Waldorfpädagogik zu interessieren. „Mich hat das fasziniert“, meint sie. „Zu DDR- Zeiten wurden alternative Möglichkeiten der Pädagogik ja einfach totgeschwiegen.“

Die Freie Waldorfschule Kleinmachnow ist noch in der Aufbauphase, ebenso wie die vierzehn anderen Waldorfschulen in Ostdeutschland. Fast alle Schulen wurden sofort nach der Wende gegründet. „Das war vielleicht ein bißchen überzogen“, meint Michael Wolff von der anthroposophischen Berufs- und Ausbildungsberatung „Sonnenschuh“ in Pankow. Denn die Schulen hatten nach der Vereinigung mit finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Zur Zeit der Übergangsregierung als selbständige Schulen gegründet, mußten sie nach bundesrepublikanischem Recht plötzlich eine „Mutterschule“ haben. Auch die Hoffnung auf eine hundertprozentige Förderung war trügerisch: Der Staat ersetzt Privatschulen höchstens 90 Prozent der Kosten, die eine staatliche Schule vergleichbarer Größe verursachen würde.

Vielleicht haben die Anfangsschwierigkeiten weitere potentielle Gründer entmutigt. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß das Potential an interessierten Eltern zunächst ausgeschöpft ist. Alle Waldorfschulen in Ostdeutschland liegen in Ballungszentren. „In den Landkommunen gibt es weniger Eltern, die so etwas finanziell und mit Engagement mitzutragen bereit sind“, erklärt Wolff. Im Vergleich zu Westdeutschland mit 145 Waldorfschulen und einer noch größeren Zahl von Kindergärten ist die anthroposophische Pädagogik in den neuen Bundesländern noch nicht sehr stark vertreten. Dort mußte sie jedoch fast bei Null beginnen: Nur die Sekte „Christengemeinschaft“ bot zu DDR- Zeiten ein paar Kurse in Eurythmie und Werken an. Nach der Wende drängten sich die Interessenten nach Eurythmiekursen und künstlerischen Ausbildungen. „Man hat ganz viel Neues vom Westen erwartet, da gab es unheimlich viel Neugier und Suche nach Orientierung“, erklärt Martin Kollewijn vom Rudolf-Steiner-Haus in Berlin. „Ein Jahr später ist das Interesse daran zurückgegangen und seitdem relativ konstant geblieben.“ Thomas Gädeke von der „Gemeinnützigen Treuhand Ost“, einem Verein zur Verwaltung und Vermittlung von Spendengeldern für anthroposophische Einrichtungen, bestätigt diese Einschätzung: „Die breite Begeisterung ist der Intensivierung gewichen.“

Auch die anthroposophische Medizin hatte ihren Boom direkt nach der Wende. 1990 fanden in den neuen Bundesländern ärztliche Weiterbildungsseminare mit über hundert Teilnehmern statt. Seitdem sei die Zahl der anthroposophisch orientierten Mediziner „langsam, aber stetig“ gestiegen, erklärt Andreas Ossapofsky von der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland-Ost. In einigen großen ostdeutschen Städten praktizieren heute bis zu acht anthroposophische Ärzte. „Wo es solche Ärzte nicht gibt, nehmen die Patienten zum Teil Fahrtwege von zwei bis drei Autostunden auf sich, um zu ihrem Arzt zu gelangen“, sagt Ossapofsky. „Und die Nachfrage steigt ständig.“ Den Anstieg erklärt der Arzt sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Zum einen erwarteten sich die Patienten von der anthroposophischen Medizin kaum Nebenwirkungen, zum anderen erhofften sich gerade chronisch oder unheilbar Kranke zumindest eine Verbesserung ihrer Lebensqualität.

Ein anthroposophisches Krankenhaus gibt es in Ostdeutschland noch nicht. In Jena hat sich jedoch eine Krankenhausinitiative mit 150 Mitgliedern gegründet, die in den kommunalen Krankenhäusern zusätzlich anthroposophische Medizin anbieten will. In den vergangenen Jahren sind in den neuen Bundesländern sechs anthroposophische Therapeutika entstanden, die unter anderem Heileurythmie sowie Informationen zur gesunden Lebensweise oder Kranken- und Altenpflege anbieten. In Dresden, dem Sitz der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland-Ost, wurden 1990 und 1991 gleich zwei Therapeutika gegründet, weitere gibt es in Berlin, Erfurt und Radebeul.

Die biologisch-dynamische Landwirtschaft ist in den neuen Bundesländern sehr unterschiedlich stark vertreten. Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bringen es auf jeweils nur etwa ein halbes Dutzend Betriebe, Mecklenburg dagegen auf dreizehn und Brandenburg sogar auf 33. Ein Grund für das Ungleichgewicht sei die schlechtere Qualität der Böden im Norden, erklärt Cornelius Sträßer, Berater für Ostdeutschland der Arbeitsgemeinschaft biologisch- dynamische Landwirtschaft.

Hauptgrund für die Vorherrschaft Brandenburgs ist die Sogkraft des Absatzmarktes Berlin. Denn die meisten Käufer in Ostdeutschland schrecken vor den extrem hohen Preisen zurück: „Hier kaufen die Leute eher im Supermarkt“, erzählt Maria Hübner von der Arbeitsgemeinschaft für biologisch-dynamische Wirtschaftsweise in Thüringen. Und wo bleibt die Ernte dann? „Ein großer Teil geht nach Westdeutschland.“