■ Was kann der Kopenhagener Gipfel bewirken?
: Das Wichtigste – er findet statt!

Der Sozialwissenschaftler Ignacy Sachs von der Pariser „École des hautes Études en Sciences Sociales“ ist seit zwei Jahren an den Vorbereitungen für den Sozialgipfel in Kopenhagen beteiligt. Seit fast einem Vierteljahrhundert ist er als Berater vor allem der Unesco tätig.

taz: Was haben ein Obdachloser in Paris und ein Obdachloser in Bamako gemeinsam?

Ignacy Sachs: Daß sie in einer Gesellschaft leben, die sich nicht um sie schert. Das sind Gesellschaften, die jenseits der Rhetorik keine Solidarität kennen. Staaten, die nicht in der Lage waren, eine Sozialpolitik als zentrales Element ihrer Politik zu entwickeln. Die Soziales als Anhängsel betreiben und zuerst an die Finanzen und die Wirtschaft denken.

Die sozialen Ziele der beiden Obdachlosen in Frankreich und Mali sind vermutlich trotzdem ganz unterschiedlich.

Alle Ausgeschlossenen wollen sozial eingegliedert werden. Das bedeutet an erster Stelle das Recht auf Arbeit oder auf ein Äquivalent. Das Recht also auf eine ökonomische Aktivität, die es erlaubt, seinen Lebensunterhalt auf eine anständige Art zu verdienen. Und der erste Schritt zur sozialen Eingliederung ist, ausgebeutet zu werden.

Seit wann ist ausgebeutet werden ein Privileg?

Es ist neu und charakteristisch für den Zustand der Welt, daß die Reichen die Armen nicht mehr brauchen. Diese Marginalisierung ist schlimmer als harte Arbeit, lange Arbeitszeiten, schlechter Lohn. Man lebt außerhalb der Gesellschaft und bekommt Krümel zugeworfen.

Wo sehen Sie denn die Möglichkeit neuer Arbeitsplätze?

Es gibt viele untergenutzte Bereiche. In den Ländern der Dritten Welt ist das die ländliche Entwicklung. Dort hat man zu schnell das okzidentale Modell imitiert: viele Maschinen, wenig Menschen. Das muß überdacht werden. Zweitens kann die Nutzung der Biomasse als industrieller Rohstoff und Energiequelle Arbeit schaffen. Drittens werden in allen Ländern der Welt Rohstoffe verschwendet: Wasser, Energie. Und schließlich haben wir weltweit ein Defizit an Sozialen Diensten von der Krippe bis zur Altersversorgung.

Können weltweit dieselben Lösungen angewandt werden?

Man kann nicht in Deutschland verfahren wie in Burundi. Aber die Thematik hat sich wiedervereinigt. Als ich meine Karriere vor vierzig Jahren begann, gab es ein ganzes intellektuelles Instrumentarium, um die peripheren, postkolonialen Länder zu studieren. Damals dachte man, daß die Reproduktion des Modells der westlichen Länder in den Ländern des Südens eine Entwicklung auslösen würde.

Die zweite Idee war die Analyse der Besonderheit der Länder des Südens. Das war eine gute Idee. Aber seit der Rückkehr der Neoliberalen denkt man wieder, daß dieselben Lösungen überall angewandt werden müssen. Das ist eine ahistorische Vision, ein Schritt zurück.

Die Dimensionen der Armut im Norden sind völlig anders als im Süden.

Das Problem Ausschluß hier betrifft eine Minderheit – wenn auch eine beträchtliche. In Indien beispielsweise ist die soziale Rechnung umgekehrt: Dort ist ein Drittel der Gesellschaft nicht ausgeschlossen. Kopenhagen anerkennt – wenn auch vorsichtig – diesen allgemeinen sozialen Bruch. Dreißig Prozent der Weltbevölkerung sind arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es hat fünfzig Jahre gedauert, bis die UNO so weit war.

Sind alle Modelle wirtschaftlicher Entwicklung gescheitert?

Gescheitert ist das sowjetische Modell der Kommandowirtschaft und die Idee, daß das Wirtschaftswachstum alles lösen würde. Und auch unser Modell vom schützenden Welfare-Staat muß neu überdacht und den Basiszielen Vollbeschäftigung und allgemeine Sozialversorgung stärker angepaßt werden. Dabei war die Erfindung des Welfare-Staats der einzige positive Beitrag Europas für die Weltzivilisation des 20. Jahrhunderts. Ansonsten haben wir zwei Weltkriege gebracht, die Vernichtungslager, die Gulags und – um das Jahrhundert zu beenden – die Genozide in Bosnien und Tschetschenien.

In Kopenhagen wird sich auch die Frage der Finanzen stellen.

Zu den interessantesten Ideen, die in Kopenhagen hätten diskutiert werden müssen, es aber nicht werden, zählt die des amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträgers Tobin. Er schlägt eine Steuer auf Devisentransaktionen vor. Er hat die sensationelle Rechnung aufgestellt, daß eine Steuer von einem halben Prozent 150 Milliarden Dollar im Jahr brächte.

Was erwarten Sie von dem Kopenhagener Gipfel?

Das Wichtigste an ihm ist, daß er stattfindet. Es ist das erste Mal, daß die soziale Entwicklung diskutiert wird. Implizit wird damit die Idee verworfen, daß wirtschaftliches Wachstum alles löst. Es ist das erste Mal, daß wir mit einer generalisierten sozialen Krise in der ganzen Welt konfrontiert sind. Das ist keine Konferenz über den Süden mehr. Das ist eine Konferenz, die erklären muß, woher es kommt, daß die reichsten Länder der Welt sich verdrittweltlichen.

Keine konkreten Schritte?

Nichts, das mutig genug wäre. Eine solche Konferenz katalysiert eine große Bewegung von Ideen. Dieser Prozeß, der in Gang gesetzt wird, ist das wichtigste. Nicht, was die Chefs diskutieren. Beispielsweise haben wir bei den Vorbereitungstreffen viel über ein garantiertes Mindesteinkommen diskutiert. Das gab es vor zehn Jahren nicht. Aber ich glaube nicht, daß etwas Spektakuläres passiert. Daß etwa eine internationale koordinierte Politik sofort der Größe des Problems der sozialen Misere in der Welt gegenüberträte. Dabei ist die soziale Frage genauso schwerwiegend wie das ökologische Problem. Man kann sich nicht im Namen unserer Enkel um Umweltpolitik kümmern, ohne sich um die zu kümmern, die jetzt dabei sind, vor unseren Augen zu sterben.

Es gibt ein weltweites Problem und eine weltweite Konferenz. Aber keine weltweiten Lösungen?

Leider wird Kopenhagen viel zu sehr auf den nationalen Lösungen insistieren. Und nicht genug auf einem Weltprogramm. Das Ziel ist aber nicht, Rezepte zu geben. Es geht erst mal darum, eine Problematik darzulegen – vor der Öffentlichkeit und der politischen Klasse. Die Tatsache, daß zum ersten Mal in fünfzig Jahren ein Gipfel von Staats- und Regierungschefs über die soziale Frage zusammentritt, muß als Alarmsignal interpretiert werden. Als Zeichen, daß etwas ganz schlecht geht.

Als zweites muß eine Bewegung von Ideen und Erfahrungen entstehen, aus der Lösungselemente herauskommen, extrem diverse. Kein Sozialwissenschaftler ersetzt die Politik. Die politischen Kräfte, die den Wandel tragen können, sind die Parteien, die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen. Solange die Dinge nicht auf politischer Ebene diskutiert und vorgeschlagen werden, können sie mit Utopien und Träumen ganze Bibliotheken füllen. Das Problem ist der Übergang von dem Konzept zur Aktion. Interview: Dorothea Hahn/Paris